Es könnte tatsächlich sein, geben wir es aufrichtig zu, dass für manche Klassen wegen des Coronavirus die Schule bis zu den Sommerferien ausfällt. Und die Eltern fragen besorgt: Was passiert dann? Wird der Stoff auch wirklich nachgeholt? Hat mein Kind jetzt dieselben Chancen im Leben? Lassen Sie uns dieser Frage ein wenig in allem Ernst nachspüren!
Mein erster Lateinlehrer war fast ein Offizier. Mit militärischem Drill lernten wir Wörter, Sätze, Konjunktive und Imperative – und all das auch noch in Latein. Noch heute schwirren in meinem Kopf ungezählte lateinische Wörter, die mir plötzlich und auch ungebeten in allen möglichen und unmöglichen Lebenssituationen einfallen. Sie sind einfach da und melden sich immer noch. Was wäre, wenn es etwas weniger davon wären?
Sicher, wäre ich der Aufforderung, die vom ganzen Wesen und Verhalten meines ersten Lateinlehrers ausging, nachgekommen, dann wäre ich heute Vier-Sterne-General oder auch ein hochdekorierter Astronaut. Aber leider kamen schon in der Schulzeit einige Dinge dazwischen, sodass mir diese Lebenswege verbaut blieben.
Und auch mein durchaus sympathischer Lateinlehrer von damals sitzt heute pensioniert und am Kopf ganz glatt rasiert an jedem Sonnentag vor den italienischen Cafés meiner Heimatstadt und trinkt genüsslich seinen Espresso. Vielleicht kassiert er wirklich Schutzgelder für seine sizilianischen Freunde, weil er eben doch kein Offizier wurde, aber selbst das ist wohl eher ein lustiges Gerücht.
Oder Mathematik: Einübung in lebenslange Traumata. Sinus und Cosinus, schräge und rechte Winkel, im Leben brauchte ich meist die schrägen, die wurden aber gar nicht so recht gelehrt. Und dass es am Ende nie aufging! In der Schulzeit, da musste am Ende bei Mathe immer ein exaktes Ergebnis stehen. Und auch noch richtig sein. Im Leben war es dann schon so, dass es dann stimmte, wenn es nicht so genau aufging, aber in der Schulaufgabe sollte immer ein Ergebnis herauskommen.
War das wirklich richtig so? Haben wir da für das Leben gelernt?
Überhaupt die Schulaufgaben in Mathematik. Drei Tage haben sie regelmäßig in der Kindheit versaut. Den Tag vor der Schulaufgabe, den Tag mit der Schulaufgabe und den Tag, an dem die Schulaufgabe zurückgegeben wurde. Meine Lieblingslehrerin in Mathe, die immer die Noten in der Reihenfolge von eins bis sechs zurückgab – spätestens bei der Vier war man schon verzweifelt und hoffte auf eine gnädige Fünf. Wenn sie dann bei den Allerletzten mit elegantem Schwung und leichter Beugung nach vorne, sodass die ganze Schönheit ihres Wesens sich kurz zeigte, die Mathearbeit auf unsere Tische legte und kommentierte: „Da war leider nichts mehr zu machen …“, da frage ich mich heute: Hätte etwas weniger davon nicht auch gereicht?
Sicher, das war eine wertvolle Schule fürs Leben. Eine rechtzeitige Einübung in schlimme Niederlagen. Eine Vorbereitung auf all die Katastrophen, die da noch kommen sollten. Aber schlimm war es auch.
Jahre nach meiner Schulzeit traf ich einen etwas schrulligen Mathematiklehrer aus der Mittelstufe meiner Gymnasialzeit auf dem Straubinger Stadtplatz wieder. Vor einem Süßwarenladen erkannte er mich, rief mich beim Namen und meinte freundlich, aber auch bestimmt: „I hab fei all eure Noten no.“ Entsetzt wandte ich mich ab, in der Hoffnung, dass er niemals von seiner Drohung Gebrauch machen würde.
Oder unser ganz ungewöhnlicher Erdkundelehrer. Alle Früchte dieser Erde presste er auf abgezogenen DIN-A 4-Blättern in kleine Quadrate und stellte sie unter die Länder, die er mit uns durchreiste. Zitronen, Orangen, Bananen. Keine Frucht war stark genug, dass sie den Sprung aus einem dieser Quadrate je herausgeschafft hätte. Immerhin, den Monsun in Indien führte er bei Sturm und Donnergrollen an einem Donnerstag in der sechsten Stunde so sinnlich vor, dass es heute noch in mir stürmt und wütet, wenn in den Nachrichten Unwetter aus Indien gemeldet werden.
Ich hatte viele Lehrer. Nette, nicht so nette, lustige und ganz ernste, verrückte und weniger verrückte. Aber wäre mein Leben ärmer, wenn das ganze Schulkarussell einmal für ein halbes Jahr ausgefallen wäre? Wenn die traumatischen Mathematikübungen für ein halbes Jahr zurückgestellt worden wären? Wenn ich nicht wüsste, dass in Äthiopien immer noch keine Schokolade auf den Bäumen wächst?
Sicher, später lasen wir den Tod des Sokrates im griechischen Original bei Platon. Und das ist wirklich eine Erfahrung, die ich bis heute nicht missen möchte. Oder das Gelage des Parvenüs Trimalchio im Latein-Leistungskurs bei Petron. Das waren Sternstunden meines geistigen Lebens, auch wenn ich die Fressgelage der Dekadenten von heute gar nicht so lustig finde wie ihr lateinisches Original.
Aber war die Schulzeit nicht deshalb so wichtig, weil man Freunde hatte, die man täglich sah? Und Lehrerinnen und Lehrer, die man doch sehr mochte? Ein Netz des gewohnten Lebens, das einen auffing und Struktur gab? Waren es wirklich all die vielen Details, die es auswendig zu lernen galt und die man bis heute – Gott sei Dank – alle längst vergessen hat? Lernte man die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht doch auch ganz woanders? Auf dem Fußballplatz, später auf den Straßen New Yorks, vor allem, wenn es dort dunkel war – oder auch bei kleineren Schlägereien, die man glücklicherweise unverletzt überstand und die einem die Gewissheit mitgaben, dass es doch bessere Wege der Konfliktlösung geben muss.
Bei dem Schriftsteller Martin Walser sind es immer die Einserschüler, die im Leben so kläglich versagen und die sich wundern, warum die, die in der Schule nie so gut waren, jetzt im Leben plötzlich die Erfolgreichen sind. Ja, das ist mehr als Literatur!
Aber doch: Ich bin all meinen Lehrern aus der Schulzeit bis heute sehr dankbar. Deshalb lade ich die, die noch leben, jeden Sommer an einem warmen Sonnenabend zum Weintrinken in meinen Garten ein. Das sind herrliche Stunden voll der Erinnerung. Schöne Gespräche mit gebildeten Menschen, was will man mehr? Es ist dann fast so, als wäre die Zeit der Kindheit ein wenig stehen geblieben und würde jetzt nochmals zum Fenster hereinschauen. Glückliche Stunden, wie es sie seit der Kindheit kaum mehr gibt.
Aber eines wundert mich doch. Nach einem solchen Abend mit etwas Weißwein, dann etwas Rotwein – alles in Maßen –, wenn sie dann gegen Mitternacht heimgehen, dann können die weder radfahren noch geradeauslaufen noch eine ganz kleine Treppe sturzfrei nach unten gehen. Da frage ich mich dann schon – als ein Schüler, der es in der Schule wahrlich oft nicht leicht hatte: Was haben euch eure Lehrer denn eigentlich Vernünftiges beigebracht? Wenn solch leichte Übungen euch bereits solche Schwierigkeiten machen!
Straubinger Tagblatt vom 25. April 2020