Wer so ganz tief im Glauben ist, gibt oft ungern Auskunft über seine Glaubenserfahrung. Er lebt in ihr, er betet in ihr, er bezeugt sie mit seinem ganzen Leben, aber er erklärt kaum, was in ihm ist. Wer aber als Glaubender auch Teil unserer modernen Welt ist, der lebt auf der Grenzlinie von weltlichem Leben und Glauben an eine Welt hinter dieser Welt. Da gibt es dann durchaus viel zu sagen, denn man sieht die ganze Komplexität unseres Daseins im Hier und Jetzt und auch unserer Gesellschaft. Und will laut darüber sprechen.
Der Münchner Autor Tobias Haberl hat mit seinem Buch „Unter Heiden“ eine Art Glaubensbekenntnis solcher Art geschrieben. Das Buch ist längst ein Bestseller geworden, denn Haberl verhehlt nicht, wie tief er glaubt, aber er schreibt auch: „Ich beichte, während ich sündige.“ Einem ganz Heiligen würde ein solcher Satz eher nicht in die Feder kommen.
Aber das macht den Text von Haberl so spannend, dass er auf der einen Seite erzählt, wie tief er all die Freuden dieser Welt begehrt, aber dann doch erlebt, dass er nicht satt wird von all dem, was nur auf dieser Welt an Glück erreichbar ist. Vielmehr erfährt er einen Schritt weiter, dort wo er ganz er selber ist, diese Welt im Zeichen des Glaubens und so schreibt er: „Es ist tatsächlich so, dass ich mir immer weniger vorstellen kann, dass es Gott nicht gibt. Und dann gibt es Tage, an denen wird mir alles zum Gottesbeweis: das unverhoffte Lächeln eines Fremden auf der Straße, ein Schwalbenschwarm, der wie aus dem Nichts die Richtung wechselt, ein Kind, das lachend einer Seifenblase hinterherjagt.“
Der mit Preisen ausgezeichnete Autor kann schon schreiben und nimmt uns mit, sowohl in die Welt seiner Freunde und Arbeitskollegen, die längst nicht mehr glauben können, als auch in die Gottesdienste, die er so gerne besucht. Dort sucht er das „Geheimnisvolle, Verborgene, Rätselhafte“. Denn ihm genügen sie nicht, die „Utopien der westlichen Welt“, die „nicht mehr poetischer oder spiritueller, sondern nur noch technologischer Natur“ seien.
Woher aber kommt ihm sein Glaube? Eine Kindheit im Bayerischen Wald, der Vater Landarzt, dem kein Weg zu weit ist zu seinen Patienten. Das ist der Anfang. Gottesdienste mag der Vater trotz all seiner Arbeit nicht versäumen und er nimmt den Sohn mit, der den Vater liebt und mit ihm auch zu den sterbenden Patienten geht.Der Vater bescheiden, ein Bild von einem Landarzt, der sein Leben für die anderen gibt. Das prägt den Sohn, auch wenn es ihn später in die Großstadt zieht und er ganz andere Interessen entwickelt. Und wenn der Sohn in der Kindheit schon am Sonntag nicht in die Kirche wollte, ließen die Eltern das zu. Aber „Tage später erwähnte mein Vater beiläufig, dass es da jemanden gebe, um den ich mich bei Gelegenheit wieder kümmern könne, das müsse nicht heute sein und morgen auch nicht, aber vergessen sollte ich den lieben Gott nicht, weil: ,Er vergisst dich auch nicht‘.“ Solches Sprechen, solches Leben prägt – offensichtlich ein Leben lang.
Es geht bei Haberl aber nicht nur um Erleben, Erfahren, Prägung in der Kindheit, sondern auch um ein Nachdenken. Dabei steht er in der Tradition derer, die die Kehrseite einer rein technischen Vernunft, die in der postmodernen Welt längst bestimmend geworden ist, überdenkt. Was Theodor Adorno und Max Horkheimer nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ als instrumentelle Vernunft gebrandmarkt haben, beschreibt Haberl in Zeiten der Digitalisierung so: „Ich bin noch keine fünfzig, aber beobachte seit Jahren, wie Menschen immer häufiger als ökonomischer Faktor und immer seltener als Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten begriffen werden.“ Eine solche Welt erscheint ihm dann „wie ein toter Ort, aufgeräumt, aber leblos, hübsch, aber vorhersehbar, sicher, aber kontrolliert, als hätte jemand eine Decke über das Geschehen gebreitet.“
Aus all diesen Erfahrungen heraus lebt Haberl am Ende als Glaubender, als Beter, denn: „Die Beziehung zu Gott muss gepflegt werden. Man muss es nicht verstehen, man muss es einfach nur tun. Denn tue ich es nicht, habe nicht nur das Gefühl, falsch zu leben, mir wird auch nicht geholfen.“ Aus gelebter Spiritualität wird so also echte Lebenshilfe im Alltag, eine Erfahrung, die viele Menschen mit Haberl teilen.
Und so wird auch das letzte große Kapitel jedes Menschen, sein Sterben-Müssen in einen neuen Horizont gestellt: „Je älter ich werde, desto stärker bin ich davon überzeugt, dass nicht nur in jedem Anfang, sondern auch in jedem Ende ein Zauber liegt, sogar im Tod. Und ich glaube, dass es ein großes Unglück der Menschen ist, dass sie das nicht wahrhaben, sondern immer alles verlängern und ausdehnen wollen. Dass sie nicht spüren, dass der Zauber des Lebens an seine Vergänglichkeit gebunden ist.“
Das Buch von Tobias Haberl ist gut geschrieben und in der Vorweihnachtszeit eine inspirierende Lektüre.
Straubinger Tagblatt vom 30. November 2024