Wann beginnt die Geschichte des schwächer werdenden Christentums? Mit Immanuel Kant, der die Vernunft als wesentlichen Wert unserer Welt aufrichtet? Oder vorher, mit den macht- und lustlüsternen Bischöfen, die im späten Mittelalter Martin Luther auf den Plan rufen? Oder mit Friedrich Nietzsche, der laut ausruft: „Gott ist tot!“
Es sind so viele Wurzeln, die zusammenwirken. Karlheinz Deschner hat sogar eine „Kriminalgeschichte des Christentums“ geschrieben und sie ist aus gutem Grund ganz dick und seitenreich geworden. Und es ist auch gut, dass Immanuel Kant die Vernunft so sehr aufwertet, denn unsere ganze Welt der Argumentation und Diskussion um den richtigen Weg in einer pluralistischen Gesellschaft fußt auf diesem Denken.
Längst sprechen zudem aber doch die klugen Köpfe der Zeit über das In- und Miteinander von Glauben und Vernunft. Genauso hat Nietzsche mit seinem Versuch, den Menschen im Hier und Jetzt zu sich selbst zu befreien und religiösen Ballast von ihm zu nehmen, eine entscheidende Wegmarke der Philosophie gesetzt. Aber auch hier gilt: Das war ein Missverständnis, dass der Glaube den Menschen die Möglichkeiten im Hier und Jetzt nimmt; dass er das Vitale nicht zulassen will. Ein Missverständnis, das von den Kirchen mit den großen Schuld- und auch Askesethemen über Jahrhunderte befeuert worden war.
Christentum als Machtausübung, das den Menschen knechten möchte, das gibt es immer wieder und auch heute noch. Im Evangelium aber liegt das nicht begründet, dort ist es das Interesse von Jesus als Heiler und Helfer, den Menschen gerade zu ihrem Leben zu verhelfen, und das genau auch schon in dieser Welt.
Und noch eine Form des Verlustes von christlichem Glauben ist dazu gekommen in den vergangenen Jahrzehnten. Die Religionsphilosophie nennt es den „ozeanischen Atheismus“. Im Alltag geht der Glaube verloren im Meer der weltlichen Dinge, die uns überschwemmen und Herr über das feste Land des Glaubens werden. Unmerklich geschieht das, so wie die Gletscher unmerklich abschmelzen oder die Wasserstände der Weltmeere unmerklich ansteigen.
Dabei sind die Themen, die das Christentum verkörpert, gerade heute wichtiger denn je. Was gereicht dem Menschen wirklich zum Heil? Natürlich auch die soziale Frage von Reich und Arm, die sich durch das ganze Neue Testament hindurchzieht. Außerdem die Frage, was geschieht mit uns, wenn wir am Ende unseres Lebens angekommen sind? All das ist heute doch ganz wichtig, aber es wird verdrängt – und die Antworten, die das Christentum geben kann, werden mit lässiger Geste allzu leicht beiseitegeschoben.
Auch die Frage unserer Freiheit, die wir so wichtig finden, ist im Christentum da. Mit den Möglichkeiten unserer Freiheit, aber auch der Grenze der Freiheit im Schicksal des anderen, der unser Mitmensch und Partner sein soll. Der Verlust von Spiritualität ist in unserer Welt so merklich spürbar. Die Welt ist kälter geworden, das Geld regiert allzu sehr und auch die Brutalität der digitalen Welt – und das zu unserem großen Schaden.
Die Kirchen sind leerer geworden – und manche Predigt hat es vielleicht wirklich nicht verdient, dass sie gehört wird. Und doch liegt dort, in unseren Kirchen, auch ein Schlüssel – immer noch – für eine bessere Welt. Wer sich dort am Sonntagmorgen umsieht, der bemerkt immer noch auch ganz junge Menschen, die offensichtlich von Gott angesprochen wurden. Ein solches Leben ist reicher als die Plastikkultur des Digitalen, die sich jeden Tag neu als allmächtig gibt.
Die langsame Welt des Glaubens, in der ein Mensch wirklich zu sich selbst geführt wird, darüber spricht Tobias Haberl in seinem Buch. Und mit seiner Glaubenserfahrung ist er immer noch beileibe nicht der Einzige in dieser Welt und in dieser Gesellschaft.
Straubinger Tagblatt vom 30. November 2024