So viel Wahrheit war selten

Dass beim Ukraine-Krieg die sogenannten Leitmedien am Anfang allesamt dieselbe Meinung vertraten, ist vor allem von Richard David Precht und Harald Welzer klug erkannt und kritisch analysiert worden. Fast einhellig war es in den Medien vor gut einem Jahr die Meinung, dass man Russland und Putin primär mit Waffen die Grenzen aufzeigen müsse. 14 Monate nach Beginn des Krieges lässt sich allerdings zeigen, dass im Verlauf dieser Zeit zum einen immer wieder auch kritische Texte Eingang in die Medienwelt fanden und zum anderen in den letzten Wochen das scheinbar bislang vorherrschende Meinungsbild sich jetzt doch ändert.
In der „Süddeutschen Zeitung“ ist es das Feuilleton, in dem der Philosoph Jürgen Habermas zweimal entschieden gegen eine rein militärische Sichtweise der Situation Stellung beziehen durfte. Auch die Schriftstellerin Nathalie Weidenfeld kam mit ihrem bekannten kritischen Text von den „Sesselgenerälen“ ausführlich zu Wort. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ setzt sich nach martialischen Anfangstönen über Monate hinweg auch allmählich die Vernunft durch. So fragt ein ausführliches dreiseitiges Dossier unter dem Titel „Verhandeln“ nach Möglichkeiten eines Friedensschlusses und sieht zum ersten Mal den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kritisch: „Mit diesem Feind gibt es nichts zu reden. Im Oktober erließ Selenskyj sogar ein Dekret, das es verbietet, mit Wladimir Putin in wie auch immer geartete Verhandlungen zu treten. Ist eine solche Strategie klug?“ Zitiert wird zudem der ukrainische Diplomat Wolodymyr Fesenko, der sagt: „Es ist eine Sache, die Befreiung der Krim und des Donbass zu unterstützen. Aber eine andere, wenn du vor der Wahl stehst, ob dafür dein Bruder, dein Vater oder dein Sohn sterben muss.“
Gegenüber der ursprünglichen emotional vorgetragenen Intuition vieler Journalisten, dass eine primär militärische Antwort auf Putins Angriffskrieg moralisch geboten und logisch notwendig sei, setzt sich auf einmal immer stärker das Argument des Philosophen Habermas durch, der vor zwei Monaten in der „Süddeutschen Zeitung“ argumentierte: „In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur ein Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“
Es sind die Toten von Bachmut auf beiden Seiten, deren sinnloses Sterben den Sinneswandel in Teilen der Öffentlichkeit eingeleitet hat. Mit ihnen hat sich die Anfangsthese der Fachleute bestätigt, dass am Ende des Krieges nicht ein Erfolg der einen oder anderen Seite stehen wird, sondern ein grausamer Stellungskrieg, der an die Zeiten des Ersten Weltkrieges erinnern würde. Vor den Toten von Bachmut mahnte der bekannte General Erich Vad, dass die Menschen, die dort auf beiden Seiten sterben würden, für nichts in den Tod gingen. Sein Rat war nicht wirklich gefragt, jetzt hat ihm die Geschichte recht gegeben.
Selbst Willy Brandt, der mitsamt der ganzen Entspannungspolitik der SPD über Jahrzehnte kaum mehr erinnert werden durfte, wird plötzlich wieder positiv gesehen. So jubelt das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ in dieser Woche euphorisch über eine neue Brandt-Biografie, die dessen Ostpolitik „überzeugend verteidige“. Und die Talkshows in den Öffentlich-Rechtlichen gegen Mitternacht? Weil die Zuschauer des Themas müde geworden sind, finden sie andere Themen und die Bellizisten von Carlo Masala bis Robin Alexander flimmern nicht mehr rund um die Uhr in Deutschlands Wohnzimmer.
Präsident Selenskyj „hofft“ noch, dass der Krieg in einem Jahr zu Ende sein werde, doch in Wirklichkeit weiß er, dass die Welt wünscht und daran arbeitet, dass es so schnell wie möglich zu Ende geht – mit welchen Kompromissen auch immer. Und im Wirtschaftsteil der „Süddeutschen Zeitung“ sagt ein Professor aus den USA unwidersprochen, dass Selenskyj den Krieg brauche, um politisch zu überleben. So viel Wahrheit war selten.
Es gibt neue Kriege und neue Krisen. Vom Sudan bis hin zu Nahost. Zu lernen ist, dass Deutschland und Europa helfen müssen, Kriege zu beenden und Krisen zu meistern. Mit Panzern alleine funktioniert das nicht, das hat sich gezeigt!
Straubinger Tagblatt vom 6. Mai 2023