Menschsein im Zeitalter der KI – Im Streben nach Perfektion und Bestleistung wird die Welt kälter

Fast wäre sein Leben an diesem Tag zu Ende gewesen. Es ist der Sommer 1976 und Niki Lauda liegt schreiend in seinem brennenden Formel-1-Auto. Zwei andere Fahrer sind schon gescheitert, den Rennpiloten aus seinem Wagen zu bergen. Da springt der kleine Italiener Arturo Merzario auf das Auto zu und zieht unter eigener Lebensgefahr den Kollegen aus dem brennenden Ferrari.

Sechs Wochen später sitzt Niki Lauda wieder im Wagen. Entstellt, kaum erkennbar mit den lebenslänglichen Brandwunden im Gesicht. Bereit, doch noch Weltmeister zu werden. Als der Italiener, der ihm das Leben gerettet hat, an ihm vorbeiläuft, begrüßt er ihn nicht und bedankt sich auch nicht. Diese Geschichte hat fast 40 Jahre später der Journalist Jochen Arntz aufgeschrieben und er hat Niki Lauda gefragt, weshalb er damals auf seinen Lebensretter nicht zugehen wollte. Niki Lauda gibt die vielsagende Antwort: „Formel 1 zu fahren, war ein Einzelkämpfertum damals. Man musste sich mit dem extremen Risiko auseinandersetzen und sagen: Ja, ich gehe es ein. Wenn ich aber so ein Risiko eingehen will, muss ich jede professionelle Störung, zum Beispiel, mich zu vermenschlichen, ich sage es ganz hart so, mich zu vermenschlichen, genau das musste man verhindern.“

Schon in der Antike strebte man nach Vollkommenheit

Das Problem des Menschseins: Angreifbar sein, verletzbar, mit Ängsten, Hoffnungen und Wünschen versehen. Sehnsucht nach Beziehungen. Und das Unbewusste, von dem wir nur die Spitze des Eisbergs erkennen, äußert sich in Träumen, derer wir nicht habhaft werden, so schnell eilen sie nachts vorbei.

Die Gegenbewegung dazu schon in der Antike, bei Platon: Schönheit, Vollkommenheit, Perfektion. Ewige Sehnsucht des Menschen. Das Kranke, der Fehler, das ganz und gar Menschliche soll keine Rolle spielen. Eine Welt der eisigen Kälte. Das prägt die Moderne und die Postmoderne bis heute. Möglichst perfekt sein, keine Schwäche zeigen. Die Leistungsgesellschaft, die Welt der Starken, Schönen und Reichen, fehlerfrei, kalt und steril.

Künstliche Intelligenz? Nochmals eine Steigerung dieser Sehnsucht: selbst Sprache braucht also keinen Menschen mehr. Alle Informationen sind da und verfügbar. Kein Augenblick mehr – und schon liegen alle Informationen auf dem Tisch. ChatGPT formuliert sogar Liebesbriefe in einer Perfektion, die die besten Heiratsschwindler vor Neid erblassen lässt. „Du bist genau der, auf den ich ein Leben lang gewartet habe… Du bist einzigartig… Du bist unendlich wertvoll für mich“, so formuliert es ChatGPT in Windeseile. Wer wollte da nicht Ja sagen!

Ein recht unbekannter Professor für Künstliche Intelligenz erklärt bei einem Kongress in der Oberpfalz seine Welt. Er spricht 20 Minuten über sich selbst und seine Laufbahn. Dann kommt er in weiteren 20 Minuten zur Sache. Erläutert die bekannten Vorzüge und Gefahren von künstlicher Intelligenz. Ich versetze mich in ein Kind, das den als Lehrer hat. Schreckliche Vorstellung. Ein hölzerner Sprechapparat, selber irgendwie leblos, ein Funktionär für eine neue Welt, die er am Horizont dämmern sieht. Sein Resümee am Ende: Er wundere sich darüber, dass Künstliche Intelligenz in unserer Gesellschaft keine größere Beachtung finde. In China seien Forscher wie er Superstars, das wünsche er sich auch für dieses Land. Ende des Vortrags, pflichtschuldiger Applaus.

Homo faber: Keinerlei Mystik, nur Mathematik

Homo faber: Das war früher Pflichtprogramm in den Gymnasien. Max Frisch hat diesen technikgläubigen Ingenieur geschaffen. Ohne echte Beziehungen lebt er, Gefühle sind ihm fremd. Um das Leben zu verstehen, reichen ihm die Gesetze der Naturwissenschaften. Seine eigene Lebensgeschichte hat er so verdrängt, dass er sich in die eigene Tochter verliebt, von der er noch nicht einmal weiß, dass es sie gibt. Tragische moderne Inszenierung des Ödipusmythos. Das junge Mädchen, Sabeth mit Namen, stirbt an der Wiederbegegnung mit dem kalten Vater, der sie nicht als eigene Tochter erkennen konnte. Faber kommentiert: „Ich bestreite nicht: Es war mehr als ein Zufall, dass alles so gekommen ist, es war eine ganze Kette von Zufällen. Aber wieso Fügung? Ich brauche, um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei Mystik, Mathematik genügt mir.“

In Mein Name sei Gantenbein setzt Max Frisch diese Auseinandersetzung mit der kalten Welt des bloß Messbaren fort. Seinen namenlosen Erzähler lässt er dort sagen: „Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist.“ Das Geheimnis des Lebens, dem sich Walter Faber noch ganz verschloss, wird so angesprochen in diesem dritten großen Roman des Schweizer Schriftstellers. Diese spirituelle Dimension des Lebens, von der alle Texte Frischs handeln, wird in Mein Name sei Gantenbein sogar in einen christlichen Heilskontext hineingenommen: „Im Tal, tief unten, eine ferne Straße, Kurven voll bunter winziger Autos, die nach Jerusalem rollen.“ Max Frisch war kein Christ und doch schreibt er so, dass Leben erlöst sei und nicht nur materielles Geschehen, denn: Alle Autos fahren am Ende nach Jerusalem, so schreibt er es auf.

Das 18. Jahrhundert: Was für ein Aufbruch! In der Literatur war bis dahin die mechanische Form das Entscheidende. Vorgegebene Gesetze, an die sich der Schriftsteller zu halten hat. Die strengen Regeln übernommen aus der Literatur der Franzosen, die das Maß des Schriftstellers bis dahin bestimmten. Auch in Deutschland in den Gedichten des Barock im 17. Jahrhundert. Die vorgegebene Form dominierte über jede denkbare Subjektivität des Schreibens. Und jetzt? Rebellion!

Es ist nicht nur das überspannte Genie, das die Dichter des Sturm und Drang sein wollen. Sich selbst überhaupt auszudrücken, darum geht es. Das eigene Leben auf die Welt loszulassen, sich selbst zu leben und auszusprechen, das ist es. Das war plötzlich möglich. Was für eine Entdeckung!

Und der junge Wolfgang von Goethe schreit sein Prometheus-Gedicht heraus: „Wer rettete vom Tode mich/Von Sklaverei?/Hast Du’s nicht alles selbst vollendet/Heilig glühend Herz?“ Das eigene Herz, das ganz eigene unverwechselbare Selbst wird ins Feld geführt gegen alle Regeln, Gesetze und Abstraktionen dieser Welt.

KI? Die Gegenwelt: Was objektiv sagbar ist, wird hingeschrieben. Ein lebloser Reiseführer durch die Geheimnisse der Welt. Kein Sender, kein Empfänger, die mit Namen auszumachen wären. Daten des digitalen Kosmos, im Bruchteil einer Sekunde ausgespuckt aus dem Maschinenraum der Computer, die immer mehr Daten fassen und verarbeiten können.

Die eigentliche Sehnsucht des Menschen dagegen? Angesprochen zu werden vom Anderen. Wirklich angesprochen zu werden. Vom wirklich Anderen. Der nicht nur eine Attrappe seiner selbst ist. Der Philosoph der Psychoanalyse, Jacques Lacan, hat als den wirklich Anderen – zu Ende gedacht – Gott und den anderen Menschen, der im Gesetz des Mitmenschen steht, beschrieben. Der also ganz im guten Sinne Mensch ist. Wahrhaft angesprochen zu werden und wahrhaft den Anderen als Anderen erkennen und ansprechen zu können, das sei das innerste Gesetz der Welt und des wahren Sprechens. Sich selbst als sich selbst zu erkennen und im Gespräch mit dem Anderen ganz ins Spiel zu bringen, das sei das Sprechen, um das es wirklich gehe, so der französische Philosoph und Psychoanalytiker.

Übersetzt in den Alltag: ein Spaziergang mit einem Freund. Ein Glas Rotwein im kleinen Kreis an einem Abend, der sich in die Nacht öffnet. Ein erkennender Blick. Verstehen.

Der Journalist Jochen Arntz erzählt am Ende vom Leben der beiden Protagonisten, die sich im Flammenbad am Nürburgring so dramatisch begegneten. Niki Lauda ist berühmt geworden. Für die Fernsehsender der ganzen Welt kommentierte er bis ans Lebensende die Rennen der schnellsten Fahrer der Welt. Er ist, als ihn Arntz 2012 besucht, noch immer ein Profi, der in einem kalten Büro empfängt: „An Laudas Pinnwand in seinem Büro hängt kein einziger Zettel. Die Nadeln, die nichts festhalten müssen, stecken sauber aufgereiht im Kork. „Ich habe nichts mehr aus der alten Zeit, alles ist weg, auch die Pokale. Ich lebe heute und denke an morgen, immer schon.“ Klingt auch irgendwie seelenlos.

Der Rennfahrer Merzario, der niemals ein Rennen gewann und den heute kaum mehr einer kennt, lebt dagegen bis heute zufrieden am Comer See. Weil die Menschen in seinem Heimatort Civenna ihn mögen, durfte er vor Jahrzehnten – man machte eine Ausnahme – sogar in der Kapelle der Gemeinde heiraten. Obwohl er zur Hochzeit zu spät kam, ist er noch immer mit derselben Frau verheiratet. Und wer das will, kann mit ihm ein paar Runden in einem alten gemieteten Ferrari durch die Gegend fahren. Nicht zu schnell, das versteht sich von selbst. Merzario ist gerade 80 Jahre alt geworden. Man kann sich vorstellen, dass er zufrieden ist. Ob er die Möglichkeiten von ChatGPT nutzt? Eher kaum.

Straubinger Tagblatt vom 27. Mai 2023