Leitartikel: Wider den Ausschluss

Gerüchte und Vorbehalte gibt es viele: Dass „die da oben“ sowieso ohne die Menschen im Land ausmachen, was in Staat und Gesellschaft gelten soll und darf; dass die Medien mit den verantwortlichen Politikern sowieso vereinbaren, was am Ende in der Zeitung steht; dass das, was wirklich geschieht, bestenfalls in den Seitenstraßen des Internets zu finden ist. So sprechen viele und verweigern immer stärker den demokratischen Parteien ihre Stimme.

Aber warum ist das so? Und warum wird diese Tendenz immer stärker? Der kluge Intellektuelle und Professor für Philosophie Julian Nida-Rümelin versucht darauf in seinem gerade neu erschienenen Buch „Cancel Culture“ eine Antwort zu geben. Dabei ist das Wort „Cancel Culture“ bei vielen Menschen gar nicht bekannt. Es bedeutet, dass bestimmte gesellschaftliche Fragen und die, die sie ansprechen, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Während einige behaupten, dass es dieses Phänomen gar nicht gibt – und damit erneut eine wichtige gesellschaftliche Frage tabuisieren wollen, diagnostiziert Nida-Rümelin, dass es „die Unterdrückung abweichender Meinungen“ und die einseitige „Formatierung des politischen Diskurses“ auch heute sehr wohl gibt. Das ist deshalb ein so wichtiger Befund, weil damit auch erklärt wird, weshalb die so „vom Diskurs Ausgeschlossenen“ sich zu „Ressentiment und Widerstand“ aufgerufen fühlen.

Auf die politische Situation übersetzt: Wer sich im Meinungsspektrum der klassischen bürgerlichen Parteien in seinem Denken nicht mehr wiederfindet, der wählt radikal. An die Stelle einer „gemeinsamen menschlichen Urteilskraft“, die sich im herrschaftsfreien Gespräch verständigen möchte, was gesellschaftliche Wirklichkeit ist und sein soll, treten Dogmatisierung und Ideologisierung. Allerlei Verschwörungsmythen beginnen zu blühen und es entstehe Begeisterung für antiintellektuelle mehr oder weniger charismatische Führungsfiguren wie Berlusconi, Salvini und Meloni in Italien, Trump in den USA, Johnson in Großbritannien oder Orbán in Ungarn.

Auf der anderen Seite finde sich dagegen das „Ausnutzen von Machtgefällen, die Unterdrückung missliebiger Meinungen durch dominante Mehrheiten oder mächtige Minderheiten“, die einem „echten Erkenntnisprozess“ im Wege stünden. Am Ende kommt eines zu kurz: eine ausreichende Akzeptanz, dass die Demokratie, die wir in unserem Land haben dürfen, tatsächlich die beste Regierungsform ist, die man sich wünschen kann! Das ist eine sehr gute Erklärung dafür, dass mittlerweile die AfD über 20 Prozent der Wähler anspricht, Tendenz steigend! Wer zum Beispiel bei Fragen der Migration spürt, dass uns die Herausforderungen immer stärker überfordern, wird schnell in die rechte Ecke gestellt.

Wenn die Außenministerin Annalena Baerbock ernsthaft behauptet, dass unser finanzielles Engagement für die Ukraine und die Flüchtlinge aus diesem Land „nichts mit den Sozialleistungen“ hier bei uns zu tun hätte, dann hat sie offensichtlich in der dritten Klasse der Grundschule nicht aufgepasst, wo man lernt, dass man einen Euro nicht beliebig oft teilen kann! Wenigstens muss man offen darüber sprechen, dass unser notwendiges und begründetes Engagement für die Flüchtlinge Wohlstandseinbußen für die eigenen Mitbürger bedeutet! Man muss darüber diskutieren, welche Balance uns hier gut tut und wie man mit den Herausforderungen umgehen kann!

Dasselbe gilt für die Verteilung von Reich und Arm in diesem Land. Während die FDP ein eisiges Schweigen verordnet, wie die zehn Prozent, denen es absolut besser geht als allen anderen, an einem sozialen Ausgleich besser mithelfen können, stellt die „Linke“ diese Frage gut begründet und eben radikal. Wer vom Zins und Zinseszins seines Vermögens leben kann, wird kaum besteuert. Und während der Papst lautstark mahnt, dass es für Kriege am Ende keine militärischen Lösungen gibt, nehmen die einseitigen martialischen Diskussionen im Fernsehen kein Ende.

Die Unionsparteien haben es mit Angela Merkel zudem längst versäumt, ein kantiges und klares Profil zu entwickeln. Ihre Versuche, am rechten Rand ein neues Profil zu entwickeln, wirken deshalb auch wenig glaubwürdig. Und Hubert Aiwanger? Es gibt kluge Politikwissenschaftler, die sagen, dass sein Sprechen die politische Landschaft weiter nach rechts treibt. Es könnte aber doch auch sein, dass er die, die sich längst von den klassischen Parteien nicht mehr angesprochen fühlen, abholt, bevor sie die AfD wählen. Dass er allerdings wörtlich Sätze zitiert, die man von Gauland und Weidel kennt, sollte er sich allerschleunigst abgewöhnen! Selbst in Bierzelten oder bei großen Kundgebungen darf das nicht sein!

Straubinger Tagblatt vom 4. August 2023