Fast zwei Millionen Menschen waren in Lissabon auf den Beinen, als Papst Franziskus dort vor zwei Wochen zum Weltjugendtag einlud. Die Resonanz in den Medien hierzulande: ein paar Bilder in der Tagesschau zwischen den Sportnachrichten und dem Wetter; in den Printmedien ganz wenig Aufmerksamkeit. Er habe den Jugendlichen gesagt, dass sie keine Angst haben sollten; zum Frieden in der Welt habe er auch noch gemahnt. Das war’s dann auch. Selten war der Bedeutungsverlust der katholischen Kirche in unserem Land besser dokumentiert als durch diesen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit.Gründe gibt’s viele: Der Missbrauchsskandal an sich hat schwer geschadet. Etwa fünf Prozent der katholischen Priester haben über die Jahre geschlagen sexualisierte Gewalt ausgeübt.
Die Aufarbeitung bis heute: eine Katastrophe. Die Ausgleichszahlungen zum großen Teil unwürdig, kaum in Relation zu den verübten Verbrechen. Dass ein Kardinal Rainer Maria Woelki an seinem Bischofsstuhl klebt, ist ein Skandal. Hätte er einen Funken Anstand oder wenigstens einen Funken wahren Glaubens, wäre er längst entschwunden. „Er hat auf Bischof studiert“, sagen die Theologen über solche Karrieristen. Tausende haben allein wegen ihm die katholische Kirche verlassen, nicht nur in Köln – aber er ist dankbar, dass Rom weiter schweigt und sein Rücktrittsangebot nicht annimmt.
Warum? Das Papstamt ist auch ein politisches Amt. Der „Synodale Weg“, ein deutsches Phänomen, ist Franziskus suspekt. In den konservativen deutschen Bischöfen sieht er kirchenpolitisch Verbündete, selbst in dem gefallenen Woelki. Ein Schwachpunkt des Papstes.
Aber hinter all diesen Problemen der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten gibt es noch tiefere Gründe, weshalb der Glauben an öffentlicher Aufmerksamkeit verliert. Der Religionsphilosoph Eugen Biser hat in den letzten Schriften seines Lebens den Begriff vom „ozeanischen Atheismus“ geprägt. Gemeint war damit, dass in den Wohlstandsgesellschaften Europas der Glaube unmerklich schwindet. Leise, unaufgeregt. Hatte Friedrich Nietzsche der Welt noch lauthals zugerufen „Gott ist tot“, um das Leben und die Daseinsbehauptung des Menschen in dieser Welt mit aller Kraft einzufordern, ist der Glaubensverlust heute schleichend und sprachlos.
Wurde vor Jahren noch diskutiert, wie wichtig das Zweite Vatikanische Konzil war, um – letztlich in der Nachfolge von Nietzsches Erkenntnis – genau dieses konkrete Leben der Menschen in dieser Welt in den Mittelpunkt auch des Glaubens zu stellen, so lassen solche Diskussionen die meisten Menschen heute kalt.
Der Befund des „ozeanischen Atheismus“ von Eugen Biser ist mittlerweile 20 Jahre alt. In diesen 20 Jahren ist die Beschleunigung des Lebens durch die Digitalisierung nochmals vorangeschritten. Sehnsucht nach Pause? Weshalb, so fragt der ganz moderne Mensch, morgen könnte alles vorbei sein! Deshalb gilt es heute zu leben! Eine Kultur des Denkens, Fragens, Diskutierens, der Reflexion abgelöst von Themen des „Lifestyle“.
Das trifft vor allem auch den Glauben. Eine Kultur der beständigen Unmittelbarkeit, die den Abstand zwischen Selbst und Welt aufzulösen scheint.„Das Zeitalter des Narzissmus“, hat Christopher Lasch das schon vor Jahren genannt. Die digitale Welt hat das noch massiv verstärkt. Alles scheint immer da und verfügbar zu sein. Ein Hamsterrad der Geschwindigkeit.
Ein Student sagt zu mir: „Ich bin heute beim Psychotherapeuten. Ich war als Heranwachsender so viel in der digitalen Welt unterwegs, dass ich zwar noch fühlen kann, aber ich weiß nicht mehr, was es ist, das ich fühle. Das muss ich jetzt beim Therapeuten neu lernen.“ Und statt einer „Work-Life-Balance“ sprechen manche heute eher von einer „Life-Work-Balance“. Auch dafür gibt es gute Argumente, der Mensch ist nicht allein zum Arbeiten da. Aber jeder Arzt weiß doch, wie weit und mühevoll der Weg in der langen Ausbildung ist, um am Ende Menschen helfen zu können.
Und selbst jeder Landarzt weiß, wie viel Arbeit es da draußen es gibt! „Ora et labora“, bete und arbeite, ist der benediktinische Leitsatz, der darum weiß. Argumente für den Glauben? Doch auch dieser Papst. Nach dem Marienverehrer Johannes Paul II. und dem intellektuellen Benedikt ein Lichtblick. Sicher, Johannes Paul II. war ein Weltreisender in Sachen des Glaubens – und doch blieb er weit weg von den Themen dieser Welt. Und Benedikt? Unser Benedikt? Geprägt von hierarchischen Vorstellungen in Glauben und Leben, die echte Nähe zu Menschen kaum zuließen – nicht einmal in seinem Denken und Schreiben.
Franziskus dagegen: ein Frommer. Ein Beter. Ein Liebender. Schon seine Enzykliken: die eine aus Sorge um die Umwelt, die andere in Sorge um die Beziehungen der Menschen miteinander. Der Ton seines Sprechens – wie ein durchgehaltenes leises Gebet. Seine Aura: bescheiden, zugewandt, liebevoll. In jeder Weise uneitel. Und er mischt sich ein. In einem großen Spiegel-Interview erzählt der Vatikan-Insider Marco Politi, wie intensiv sich Franziskus mühe, hinter den Kulissen zu vermitteln, damit im Ukraine-Krieg endlich Frieden wird.
Politi wörtlich: „Der Papst glaubt an ein ‚Helsinki‘, eine Neubelebung der wegweisenden KSZE-Sicherheitskonferenz in Finnland in den Siebzigerjahren. Damals verständigten sich Nato, Warschauer Pakt und neutrale Staaten auf einen Annäherungsprozess im Kalten Krieg. Heute sollte dies laut Franziskus auf Weltebene geschehen, unter Beteiligung des globalen Südens. Er will über die westliche Perspektive hinaus, in Richtung eines multipolaren Denkens. Das gefällt der Ukraine nicht.“
Während sich die europäischen Regierungen in ihrem primitiven Freund-Feind-Denken verrannt haben und immer mehr Waffen in das Pulverfass Ukraine liefern, erkennt genau dieser Papst die Katastrophe dieser europäischen und amerikanischen Politik. „Der Dialog muss stattfinden, auch wenn er manchmal stinkt“, zitiert Politi den Papst, der unermüdlich für eine Beendigung dieses sinnlosen wechselseitigen Abschlachtens werbe. Franziskus stehe gegen einen „westlichen Hurrapatriotismus mit bedingungslosem Beistand für die Ukraine: Ein in die Knie gezwungenes Russland könne auseinanderbrechen – mit verheerenden Folgen“, so zitiert Politi den Papst.
Dem Totschlagargument, dass Putin der Böse sei und so fast jedes Mittel gegen ihn rechtfertigt, stellt der Papst das Lebensrecht jedes einzelnen Menschen in den Vordergrund. Und wirbt auch in dunkelsten Zeiten für Frieden und Leben. Stellt die Bergpredigt in den politischen Kontext unserer Zeit. Das ist mutig und auch weise.
Die Frage stellt sich: Ist nicht der Ansatz, die Landkarten der Welt mit Waffen gerecht aufteilen zu können, ein gottloses Unterfangen? Das Handeln des Papstes deutet in diese Richtung. Vertrauen, Glaube, Hoffnung, Liebe, das sind die Begriffe, die das Christentum prägen. Wo es schwindet, wird auch weniger von diesen tragenden Säulen des Lebens gesprochen. Andere Werte treten in den Vordergrund und machen sich wichtig, der alltägliche Egoismus zieht seine Kreise.
Fast zwei Millionen junge Menschen haben sich in Lissabon getroffen, um aufzustehen, für eine lebenswerte Welt. In den Medien wurde das nur als Randnotiz vermerkt. Auch das gehört irgendwie zu den Katastrophen, die unsere Gegenwart ausmachen.
Straubinger Tagblatt vom 19. August 2023