Der Narziss vom Bodensee – Der verstorbene Martin Walser vergaß, anderen die gleiche Selbstliebe zuzugestehen, die er selbst für sich in Anspruch nahm

„Seelenarbeit“ hieß der erste große Roman von Martin Walser, der mich fesselte. Ein Chauffeur fährt seinen Chef über die Lande. Tagelang. Wochenlang. Sein Leben. Und er entwickelt Hass, dass er niemals weiß, wohin die Reise geht. Und warum ist überhaupt er der Fahrer und der andere der Chef?

Jahre später schenkte ich dieses Buch dem Fahrer eines mir bekannten Unternehmensleiters eines Energiekonzerns. Ein paar Wochen später meine Frage an ihn, wie er das Buch gefunden habe: „Da ist was dran“, meinte er trocken.

War Walser also ein Kämpfer für die Rechte der Arbeiter? Es schien fast so damals am Ende der 70er Jahre, als ihn seine brillante Erzählung „Ein fliehendes Pferd“ so vielen Menschen bekannt gemacht hatte.

Und doch war seine Lebensgeschichte eine ganz andere: Walsers Vater war früh verstorben, was ihn prägte. Er liebte die Mutter und verlor sich als junger Mann an die Literatur Franz Kafkas. In seiner Doktorarbeit stellt er – ein wissenschaftlicher Durchbruch – das wesentliche Merkmal von Kafkas Literatur heraus: Es gebe dort nur den „einsinnigen Erzähler“. Übersetzt: Alle Figuren sind beschränkt auf nur ihr eigenes Bewusstsein und können an der Welt des anderen nicht teilnehmen.

Walsers Figuren leiden am Nicht-gesehen-Werden

Die Psychologie nennt diese Fähigkeit der Teilnahme an einem gemeinsamen Lebens- und Weltbewusstsein „Überstiegsfähigkeit“. Kafka lässt das bewusst weg, und das macht den großen Reiz seines geheimnisvollen und abgründigen Erzählens aus.

Martin Walser überträgt dieses Erzählprinzip auf sein eigenes Schaffen. Und so leiden seine Figuren am Nicht-gesehen-Werden von denen, die scheinbar die Mächtigen sind. Doch während Kafka seinen Figuren mit großer Distanz gegenübersteht und beim Vorlesen seiner Texte vor Lachen kaum weiterlesen kann, macht Walser mit diesem Prinzip ernst – offensichtlich nicht nur beim Schreiben, sondern auch im Leben.

Er schreibt aus der Perspektive der Unterdrückten und er stellt sich im Leben auf die Seite der Unterdrückten. Er übernimmt die Perspektive der Schwachen, auch der Schwächlinge.

Das ist aber gar nicht so sehr politisch motiviert, sondern Ausfluss eines Bewusstseins, das von da an im Zirkelkreis der eigenen Fantasien steckenbleibt und sich der Wirklichkeit des Lebens ein ganzes Stück weit verweigert.

Das berühmte „Realitätsprinzip“, bei Walser verliert es sich im Leben und Schreiben immer mehr. In einer Welt, in der Männer und Frauen darum kämpfen, ein Stück vom Leben abzubekommen, ist solche Dauerperspektive des Außenseiterdaseins, der Verliererexistenz mehr als problematisch.

Von daher erwachsen Walser die vielen Kritiker, die ihm übelnehmen, dass er nicht Mensch unter Menschen werden will. Aber auch seine Verehrer, die spüren, dass hier einer einen Überschuss an Fantasie entwickelt, die in einer Welt, die an ihrer Rationalität fast schon erstickt, auch entlastend wirkt.

Walser hat von daher wohl auch kaum verstanden, weshalb sein Roman „Tod eines Kritikers“, der eher eine persönliche Mordphantasie blieb als ein Kunstwerk, gesellschaftlich so verstörend wirkte.

Eine fast schon verstörende Distanz zur Welt

Auch seine berühmt gewordene Frankfurter Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in der er 1998 kritisierte, dass das Dritte Reich in medialen Dauerschleifen immer wiederkehrt, hat wohl kaum einen bewussten Antisemitismus zum Hintergrund, sondern eher eine fast schon verstörende Distanz zur Welt selbst und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist.

Walser lebte in seiner eigenen Welt. Alles, was er dort sagte oder tat, war letztlich eine Projektion seiner Fantasien. Deshalb war er nie wirklich Kommunist und auch nie wirklich am rechten Rand des politischen Spektrums.

Kein Wunder, dass in den frühen 70er Jahren er und Peter Handke sich gegenseitig Narzissmus vorwarfen. Am Ende waren sie es beide, allerdings in verschiedenen Ausführungen, die sich gegenseitig nicht vertrugen.

Und was allzuleicht vergessen wird: Der Narzisst ist im Mythos nicht nur eine negative Figur: Im Wasser erkennt er sich selbst und beginnt sich zu lieben. Durchaus begrüßenswert! Nur vergisst er, dem anderen dieselbe Selbstliebe zuzugestehen.

Überhaupt das Wasser: in der Psychologie bis heute das Symbol für das Unbewusste. Die Welt der Seele und der Träume. Der Schriftsteller muss es aufsuchen, kein Wunder, dass Walser unmittelbar am Bodensee lebte und seine Heimat so sehr liebte. Das Wasser und das Schwimmen im Bodensee löse ihm die Schmerzen, so pflegte er zu sagen.

Am Montag fand seine Beerdigung in Wasserburg am Bodensee statt. Sein Grab liegt unmittelbar am Wasser. Es ist bescheiden. Nur ein schlichtes Kreuz teilt die Hoffnung des großen Erzählers mit.

Ich habe in jahrelanger Beschäftigung mit dem Werk von Martin Walser vieles verstanden. Dafür bin ich dankbar.

Vielleicht ist es gar kein Zufall, dass ich genau im Augenblick seines geheim gehaltenen Abschieds von dieser Welt bei einer lange geplanten Radtour am Bodensee unmittelbar an seinem letzten Aufenthaltsort vorüberfuhr.

Straubinger Tagblatt vom 3. August 2023