Leitartikel: Wählen – warum?

„I bin halt a ned auf der Brennsuppn dahergschwumma“, das sagte vor Jahrzehnten immer mal wieder ein recht kluger alter Jesuit zu mir. Übersetzt ins Hochdeutsche in etwa: Ich bin durchaus fähig, zu verstehen, welches Spiel hier gespielt wird, und mich auch erfolgreich daran zu beteiligen. Heute dagegen meinen viele Bürger, dass unsere Politiker auf der „Brennsuppn dahergschwumma“ wären. Zu abgehoben, zu weit weg von der Lebenswirklichkeit, in einer eigenen Blase vor allem in Berlin, die mit dem Alltagsleben der Menschen hierzulande wenig zu tun habe.

Und in der Tat: Das war schon seltsam, dass zum Beispiel bei den ersten Entwürfen zum sogenannten Heizungsgesetz überhaupt nicht gesehen wurde, dass ein solcher Eingriff in die finanziellen Möglichkeiten der Menschen, die sich in der gesellschaftlichen Mitte noch einigermaßen erfolgreich behaupten, schlicht eine Überforderung darstellt! Oder auch: Wie wenig man sich in den letzten Jahren auf steigende Flüchtlingszahlen vorbereitet hat. Wieder stehen Landkreise, Städte und Gemeinden vor fast unlösbaren Aufgaben – und die Politik beginnt wieder einmal viel zu spät, realistische Lösungsversuche zu erarbeiten.

Aber es gibt auch eine andere Seite: So hat der Dokumentarfilmer Stephan Lamby in seinem Film „Ernstfall – Regieren am Limit“ mehrere Monate lang die führenden Mitglieder der Bundesregierung bei ihrer Arbeit begleitet. Offensichtlich wird dabei schnell: Dieses Leben ist eine durchgehende Überforderung! Gerade noch im Flugzeug nach China, ein Kurzaufenthalt in Washington, Besprechungen in Brüssel – und zu Hause die Wähler, aber auch die Mitglieder der eigenen Partei, vor denen man sich verantworten muss. Schwer vorstellbar, dass, wer so leben muss, am Morgen überhaupt noch weiß, wo er gerade aufgewacht ist.

Dazu die Überfülle der Probleme: die Klimakrise, die jeden Tag neue Antworten einfordert und zur Eile mahnt. Der Ukraine-Krieg, der nicht zum Flächenbrand für ganz Europa werden darf. Gewalttätige Umstürze in Afrika, die die Welt verändern, oder auch ein China, das man braucht, obwohl es mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaat kaum etwas zu tun hat. Erkennbar wird in diesem Dokumentarfilm, wie ernsthaft sich ein Olaf Scholz oder ein Robert Habeck bemühen, der Verantwortung, in der sie stehen, gerecht zu werden. Auch wenn das bei solcher Überforderung kaum möglich ist!

Filmemacher Lamby stellt in seinem Dokumentarfilm auch fest, dass Olaf Scholz der einzige europäische Politiker sei, der auf einen gewissen Abstand zu Wolodymyr Selenskyj achte und auch ihm gegenüber skeptisch bleibe. Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD, mahnt immer wieder Friedensverhandlungen für die Ukraine an, um noch mehr sinnloses Morden zu verhindern. Gut, dass es diese SPD immer noch gibt!

Die kluge Politikwissenschaftlerin Ursula Münch gibt dieser Regierung bei aller Kritik als Schulnote immerhin eine Drei; und ein langer Podcast im Bayerischen Rundfunk arbeitet heraus, dass diese Regierung in Berlin viele Themen aufgegriffen und recht gut gelöst hat, was durch den vielen Streit vor allem zwischen den Grünen und der FDP allzu sehr aus dem Blick geraten ist. Es ist einfach, in der Wohlfühlatmosphäre am Stammtisch über „die da“ in Berlin zu schimpfen. „Die da“ in Berlin zu sein, ist dagegen ein recht schwieriges Unterfangen!

Ein Blick nach Bayern: Vor Kurzem durfte ich in einer Feierstunde in München den Bayerischen Verdienstorden entgegennehmen. Die Schwierigkeit für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder: Es gab insgesamt 84 (!) Menschen aus ganz Bayern, die so geehrt wurden. Offensichtlich hatte sich der Ministerpräsident mit jeder einzelnen Biografie vertraut gemacht, hatte für jeden Geehrten nicht nur einen freundlichen Händedruck, sondern auch die passenden Worte zu dessen Biografie. Das Ganze dauerte 90 Minuten. Während wir Geehrten spätestens bei Nummer 29 weitgehend erschöpft waren, hielt Söder bis zum Ende der Ehrung mit gleichbleibender Freundlichkeit durch, um dann ohne Pause zum nächsten Termin aufzubrechen. Da muss einer schon Kraft haben!

Überhaupt die vielgescholtene CSU: Der Weg, den Bayern in den letzten Jahrzehnten so erfolgreich gegangen ist, ist auch ein Erfolg der Politiker dieser Partei, die es nur in Bayern gibt. Selbst die „Süddeutsche Zeitung“, die sich eigentlich ganzjährig im Wahlkampf gegen die CSU befindet, schreibt in einem Leitartikel vor wenigen Tagen unter dem Titel „Basst scho!“ bei aller Kritik auch in diesem Text über die Vorzüge der bayerischen Staatsregierung: „Bayern hat eine niedrige Kriminalitätsbelastung, zur Integrationskrise liefert die CSU zumindest Lösungsvorschläge, zuletzt übrigens erstaunlich sachlich. Finanzminister Albert Füracker von der CSU arbeitet solide. Und Söders Hightech-Agenda kann sich sehen lassen: hohe Investitionen in Forschung etwa zu künstlicher Intelligenz (…) Söder hat indes in den fünf Jahren etwas anderes erreicht, was nicht im Koalitionsvertrag steht. Ihn begleitete bei seinem Aufstieg stets der Ruf eines politischen Hütchenspielers, jetzt hat er sich Landesvaterformat erarbeitet.“ Donnerwetter!

So unrealistisch es von daher auch ist, zu glauben, dass sich irgendeine andere Partei gegen die CSU durchsetzen kann, so sinnvoll ist es aber dennoch auf jeden Fall, zur Wahl zu gehen. Eine Stimme für die SPD ist immer auch eine Stimme für einen Kanzler, der erkennbar in der Tradition der Friedens- und Entspannungspolitik seiner Partei steht. Eine Stimme für die Grünen ist immer auch eine Stimme für den Klimaschutz, selbst wenn die Rezepte, die dort angeboten werden, manchmal nicht überzeugen.

Wer mit dem Argument, dass die Politiker allesamt „auf der Brennsuppn dahergeschwumma“ seien, aus Überzeugung nicht wählt, begeht einen Fehler. Denn er stärkt auf diese Weise die AfD, die nicht nur überhaupt keine Rezepte zur Lösung der vielen Probleme hat, sondern auch unsere Demokratie in schlimmster Weise gefährdet. Eine Stimme, die nicht abgegeben wird, ist eine Stimme für die AfD! Es ist eine Stimme für die Höckes oder Weidels dieses Landes, die so unerträglich gegen alles hetzen, was unsere politische Kultur ausmacht. 30 Prozent Zustimmung im Osten, 20 Prozent in Gesamtdeutschland, das sind Weckrufe an uns mündige Bürger, uns dieser Entwicklung mit unserer einzelnen Stimme auch bei einer Landtagswahl an diesem Sonntag entgegenzustellen.

Der Weg zum Wahllokal ist ein kurzer und er ist schmerzlos. Der Weg zurück zur Demokratie, wenn das Kind wirklich einmal in den Brunnen gefallen wäre, ist lang, das wissen wir Deutsche am allerbesten. Von den Schmerzen, die er bedeutet, ganz zu schweigen!

Straubinger Tagblatt vom 7. Oktober 2023