Auf dem Fernsehkanal Arte wurde vor Jahren ein interessanter Dokumentarfilm gezeigt. Ein Mann, der für einen mexikanischen Drogenbaron gearbeitet hatte, wurde eine Stunde lang interviewt. Sein Gesicht wurde nicht gezeigt. Er hatte gemordet, vielfach, vergewaltigt, gefoltert. Er erzählte aus seinem Leben, das er nach einem Bekehrungserlebnis hinter sich gelassen hatte. Mittlerweile lebt er mit neuer Identität als Kronzeuge geschützt mit seiner kleinen Familie und kann nicht glauben, was er getan hat. Viele Menschen, die seinem Drogenboss im Weg standen, erwürgte er mit bloßen Händen. Ein Aspekt seines Erzählens war besonders aufschlussreich. Er meinte, dass ein Mensch kurz vor seinem Exitus noch einmal eine unglaubliche Kraft aufbringe, um doch noch zu überleben. Das sei für ihn als bezahlten Killer immer der gefährlichste Moment gewesen.
Es kann kein Zweifel sein: Der Text, den die „Süddeutsche Zeitung“ – gegen die üblichen Regeln journalistischer Fairness – auf der Basis der Denunziation eines ehemaligen Gymnasiallehrers mitten im bayerischen Wahlkampf publizierte, war – im übertragenen Sinn – ein fast tödlicher politischer Angriff auf Hubert Aiwanger, den Vorsitzenden der Freien Wähler. Antisemitismusvorwürfe sind in der Regel tödlich. Nur der Verdacht der Kinderpornografie oder schwerer sexueller Übergriffe führt noch schneller ins politische Aus oder in die gesellschaftliche Isolation. Auf der Oberflächenebene ging es – politisch ganz korrekt – um die Frage, wes Geistes Kind Hubert Aiwanger sei. Auf dieser Oberflächenebene wurde die Frage diskutiert, ob von einer solchermaßen manifesten kindlichen Prägung eine direkte Linie zu Aiwangers Erdinger Rede führe, wo er sich bei zwei Sätzen ganz offenkundig bei einem Sprechen bediente, das dem Jargon der AfD entstammt. Ein ganz gravierender Missgriff! In der Tiefenstruktur dieses politischen Vorgangs aber war eine andere Motivation deutlich erkennbar. Es schien sich für viele ganz plötzlich die Chance aufzutun, den ungeliebten Politiker aus Niederbayern, der sich so populistisch, aber doch auch geschickt zwischen der AfD und der CSU positioniert, zügig ins politische Aus zu befördern. Nein, es gab mit Sicherheit keine Verschwörung gegen Hubert Aiwanger. Das ist der falsche Begriff! Aber was es schon gab, war, dass sich auf einmal alle möglichen Mitspieler des politischen Lebens berufen fühlten, sich öffentlich zu äußern und so den Druck auf Aiwanger bis ins Unerträgliche zu steigern. Naheliegenderweise waren dies die politischen Mitbewerber im bayerischen Wahlkampf von der SPD bis zu den Grünen, aber eben auch deren Spitzenvertreter in Berlin. Dazu kamen diverse Berichterstattungen in den Medien, die den Ball aufnahmen und natürlich die vielen Antisemitismusbeauftragten, die mit sehr viel Sensibilität die unglaublich wichtige Erinnerungsarbeit an die Verbrechen des Dritten Reichs pflegen und naheliegenderweise überhaupt kein Verständnis für das Fehlverhalten eines 16-jährigen Gymnasiasten aufbringen können. Das ist auch mehr als nachvollziehbar und muss auch so sein. Nur die CSU in Bayern blieb gegenüber Aiwanger ambivalent, weil mit ihm natürlich ihr eigenes Schicksal eng verbunden ist. Die CDU in Berlin ging ebenfalls auf Abstand. Wer die Mechanismen von Politik und Medien in ihrer ungeheuren Brutalität kennt, der hat eine Vorstellung davon, was für ein nahezu unmenschlicher Druck auf Aiwanger in dieser mehrtägigen Phase seines politischen Lebens lag.
Und jetzt kommt der ganz interessante Aspekt dieses Falls: Aiwanger begreift, dass jeder, aber auch wirklich jeder konkrete Erklärungs- und Deutungsversuch der damaligen Ereignisse sein politisches Aus bedeutet. Er lässt also die Oberflächenebene der Vorwürfe nahezu links liegen und kämpft ausschließlich in der Tiefenstruktur des Vorgangs um sein politisches Überleben. Zur Sache selbst sagt er also nur, dass es da Interpretationsspielräume gebe, was genau keine Interpretation ist, im Landtag wenige Tage später hält er sein Schweigen durch, mitsamt dem Ministerpräsidenten. Alle, die sich bemühen, auf der Textstruktur des damaligen Vorgangs zu kommunizieren, laufen so ins Leere, während Aiwanger das Geschehen ganz ausschließlich von der Subjektivität der eigenen Person her anspricht, wenn er sagt: „Ich bin ein Menschenfreund.“ Oder: „Das Bild, das von mir gezeichnet wird, das bin nicht ich, das ist nicht Hubert Aiwanger.“
Viele bezeichnen diese Krisenbewältigung des Freie-Wähler-Chefs Hubert Aiwanger als katastrophal. Aus einer bestimmten Perspektive kann man das so sehen. Aber aus meiner Sicht war dieses Vorgehen die einzige Chance für Aiwanger, politisch zu überleben.
Und wie ist es jetzt wirklich? Die Auftritte von Aiwanger in den Bierzelten oder auch bei allen anderen größeren Veranstaltungen haben immer etwas Schauspielhaftes. Aiwanger spielt auf den politischen Bühnen mit großer Lust eine Rolle. Er könnte auch bei Shakespeare auftreten oder wenigstens im Komödienstadel. Er zelebriert seine Rollen, zu oft übertreibt er dabei in seiner Lust am eigenen Spiel. Dass er sich als pubertierender Jugendlicher in diversen Rollen gefiel, liegt nahe. Dass ein 16-jähriger Junge noch nicht versteht, dass die Wirklichkeit wirklich ist und alles, was man tut, Verbindlichkeit hat, sagen uns die Psychologen. Über den Schullehrer, der solche Dinge Jahrzehnte später nach außen trägt, gibt es keine zwei Meinungen.
Hubert Aiwanger ist in seinem politischen Leben niemals mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen. Wenn er etwa bei der IHK Niederbayern nicht als Bierzeltredner triumphiert, sondern über Energiethemen referiert, ist er in wissenschaftlicher Weise differenziert und erhält von den Fachleuten Beifall.
Im persönlichen Gespräch erlebe ich Hubert Aiwanger als freundlich und zugewandt. Eher fein als grob. Die Rolle, die er auf der Bühne spielt, ist dann kaum vorstellbar. Man wundert sich.
Es gab einmal einen Tennisprofi aus den USA, sein Name war Brad Gilbert. Er war nicht sonderlich begabt, schon gar nicht zum Tennisspielen. Er entwickelte aber einen Spielstil, der so unkonventionell war, dass man nicht glauben mochte, dass er es damit in die Top Ten der Welt schaffte. Wie er das machte, beschrieb er in einem Buch, dem er auch noch den Titel gab: „Winning ugly“ (Hässlich gewinnen). Irgendwie erinnert mich Hubert Aiwanger an diesen auf der Tour nicht unbeliebten Spieler. Sowohl in seinen Bierzeltauftritten, aber auch mit seiner erfolgreichen Krisenbewältigung. Für diejenigen, die sich jetzt so unglaublich ärgern, dass Hubert Aiwanger durchgekommen ist, dass er politisch überlebt hat, sei zum Trost erzählt: Gegen Boris Becker verlor Brad Gilbert. Auch das gibt es. Becker meinte damals trocken: „Today it was losing ugly!“
Straubinger Tagblatt vom 13. September 2023