Ein Narziss auf dem Papstthron

Mit „Der Unfehlbare“ hat der Kirchenhistoriker Hubert Wolf ein brisantes Porträt von Pius IX. verfasst.

Flucht in die Gewissheit“ heißt das Buch des bekannten Münchner Psychotherapeuten Werner Huth, in dem er beschreibt, wie Menschen oder Gruppen in unsicheren Situationen aus Angst in eine fundamentalistische Position drängen: „Ohne Ich- und Bewusstseinsveränderungen, die aus der Abwehr geboren sind und hinter denen letztlich Angst steckt, gibt es keinen Fundamentalismus. Für den Fundamentalisten schrumpft die Wirklichkeit auf das für ihn Bedeutsame zusammen. Er sucht nur noch Bestätigungen seiner Ansichten oder aber Feinde, die diese Ansichten mit unlauteren Mitteln bekämpfen. Damit will er seinerseits alles Fremde und die eigenen Zweifel abwehren.“

Das beste Beispiel ist Donald Trump. Sein Wahlsieg vor vier Jahren, als er amerikanischer Präsident wurde, war überwältigend – dabei hatte er außer der Parole „America first“ nun wirklich nichts zu bieten. An und für sich ist der Fundamentalismus am ehesten bei Religionen anzutreffen. Beim sogenannten „Islamismus“ ist das in den letzten Jahren oft analysiert worden. Der eigene Glaube wird absolut gesetzt und damit zu einer Fehlform der wahren Religion.

Mit Glück und Beziehungen machte er in Rom Karriere

Und die katholische Kirche? Woher kommen eigentlich in ihr die unglaublich konservativen Beharrungskräfte, die es dort immer noch gibt? Was waren die historischen Weichenstellungen für die Fehlentwicklungen, an denen die katholische Kirche noch heute leidet? War es wirklich nur das finstere Mittelalter, als Kaiser mit Päpsten um die Macht rivalisierten – über Jahrhunderte, so dass die eigentliche Botschaft des Evangeliums fast vollständig in den Hintergrund trat.

Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat jetzt ein unglaublich spannendes Buch geschrieben, in dem er herausarbeitet, wie Papst Pius IX. im 19. Jahrhundert die katholische Kirche in genau jene Fehlentwicklung hineinsteuert, unter der sie in Teilen noch heute leidet. „Der Unfehlbare“ heißt das umfangreiche Porträt über den italienischen Grafen Giovanni Maria Mastai-Ferretti aus Senigallia, einem kleinen Kaff irgendwo in den Marken zwischen Rimini und Ancona. Eigentlich war er noch nicht einmal für das Amt des Priesters geeignet, weil er unter starken epileptischen Anfällen litt. Aber mit Glück und Beziehungen ging es dann doch nach Rom, wo er seine Karriere machte.

Der Tübinger Theologe Hans Küng verdankt seine Popularität sicher auch seiner laut aufgeworfenen Frage, wie sich denn Päpste „unfehlbar“ nennen könnten. Das haben ihm damals zahlreiche andere Theologen übelgenommen, weil er ein Thema in die Öffentlichkeit trug, das zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr interessierte. Aber die Frage bleibt: Wie kommt ein Papst dazu, sich für unfehlbar zu halten und vor allem andere auf diese Sichtweise festzulegen? Und es war ja nicht erst das Dogma aus dem Jahr 1870, sondern schon in seiner Antrittsenzyklika im November 1846 sprach sich der neue Papst die Unfehlbarkeit zu. Er behauptet hier, dass sich die ganze Welt in einem „schrecklichen Krieg gegen die katholische Kirche“ befinde. Er wehre sich gegen die Kommunisten, die Sozialisten, die Gleichgültigen, die Protestanten und all die anderen, die behaupteten, „die hochheiligen Geheimnisse unserer Religion seien Erdichtungen und Erfindungen der Menschen, und die Lehre der katholischen Kirche widerstreite dem Wohl und den Vorteilen der menschlichen Gesellschaft“.

Das ist der Beginn seiner Selbsterhöhung. Gegen den Zeitgeist, in aggressiver Frontstellung gegen all die Gefahren, die er in diesem von Revolutionen und Kriegen gebeutelten 19. Jahrhundert spürt und von denen er sich und seine Kirche bedroht fühlt. All diese Irrtümer schrien geradezu nach einer letzten „lebenden Autorität“, die „den wahren und rechtmäßigen Sinn der himmlischen Offenbarung lehren, festlegen und alle Streitfragen im Bereich des Glaubens und der Sitten mit unfehlbarem Urteil entscheiden“ könne. Diese „lebendige und unfehlbare Autorität waltet nun in jener Kirche, die von Christus, dem Herrn, auf Petrus, das Haupt“, übergegangen sei, so dass heute die Deutungshoheit über das, was zu glauben sei, zuletzt beim Papst liege.

Der Papst als Interpret der göttlichen Instruktionen

Nicht Jesus ist es also, der in jede Zeit hineinsprechen soll, nicht die Evangelientexte also sind es, die in jeder Zeit je neu hermeneutisch befragt und gedeutet werden müssen. Nein: Der Papst hat die Wahrheit, er steht für die Wahrheit, er ist die Wahrheit.

Mit dieser ersten Enzyklika in einer Zeit der europäischen Unruhen und Wirren beginnt der verhängnisvolle Weg der katholischen Kirche in einen dogmatischen Autoritätsglauben, der ihr selber über Jahrzehnte am allermeisten schadete. Es folgte 1864 der bekannte „Syllabus errorum“, also der Index aller vermeintlichen Irrtümer der modernen Welt und Gesellschaft, und am Ende das Erste Vatikanische Konzil von 1869 bis 1870 mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes.

Das Erste Vaticanum macht so die Tür zum Denken und Fragen in der Tradition der Aufklärung für die Katholische Kirche erst einmal zu. Hubert Wolf fasst den Inhalt so zusammen: „Gott teilt dem Menschen Sätze mit, die übernatürlichen Ursprungs sind, deshalb von der Vernunft nicht überprüft werden können und schlicht geglaubt werden müssen. Damit die Gläubigen auch sicher sein können, dass ein Glaubenssatz tatsächlich von Gott stammt, braucht man einen authentischen Interpreten der göttlichen Instruktionen. Dieser Interpret ist der unfehlbare Papst. Aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott wurde ein Katechismusunterricht gemacht.“

Und fast noch gravierender: Der Papst spricht sich das „Jurisdiktionsprimat“ zu und gibt so mit seiner Autorität den Bischöfen, aber auch den Gläubigen verbindliche Anweisungen, die zu befolgen sind. Wenn wir heute an den Streit zwischen dem Papst und den deutschen Bischöfen um die Beratungsgespräche vor Abtreibungen denken: Deshalb konnte der Papst ohne Rücksicht auf seine Bischöfe und Kardinäle in Deutschland sich ganz einfach durchsetzen. Das Erste Vaticanum wirkt in wesentlichen Teilen bis heute weiter.

Und Papst Pius IX.? Wer war er wirklich? Ein Geängsteter? Ein Selbstsüchtiger? Ein Irrer? Auf jeden Fall lässt er sich als Papst jede Schmeichelei gerne gefallen. Als unfehlbarer Papst glaubt er sich gerne selbst seine bequeme Allmacht und Allwissenheit. Ein Narziss auf dem Papststuhl, der Maria verehrt und an Wunder glaubt, vor allem, wenn sie ihm selbst gelten. Das ist heute auch der Stand der Forschung. Aber schon die Zeitgenossen von Papst Pius IX. stellten wahnsinnige Züge an ihm fest. Hubert Wolf: „Beim obligatorischen ‚Fußkuss‘ – der Papst sitzt auf seinem Thron, die Bischöfe treten heran, knien nieder und verehren die Füße des Papstes – hat er offenbar mehrfach seinen Fuß auf den Kopf eines Bischofs gestellt und ihn niedergedrückt. Bischof Dupanloup sprach in diesem Zusammenhang von einem ‚Herz aus Stein‘ und nannte ihn einen notorischen Täuscher und sogar Lügner. Kurienkardinal Gustav Adolf von Hohenlohe-Schillingsfürst äußerte, ihm sei in seinem ‚ganzen Leben kein Mensch vorgekommen‘, der ‚es mit der Wahrheit weniger genau nahm als gerade Pius IX.‘.“ Donald Trump lässt grüßen!

Er hat das charismatische Papsttum erfunden

Und heute? Die Spätfolgen dieses Pontifikats sind bekannt, und so gab es gegen seine Seligsprechung vielfältige Einwände von Theologen und liberalen Bischöfen, und sie dauerte dann auch über 100 Jahre. Die Tugend der Nächstenliebe habe gefehlt, die soziale Frage habe ihn nicht interessiert und bei der Durchsetzung seiner Unfehlbarkeit gegen liberale Kritiker gilt es zu überlegen: „Zu fragen ist, ob der Papst den Vätern (des Konzils) volle Freiheit ließ, das Thema zu analysieren und darüber zu entscheiden; ebenso, ob er sich auch gegenüber jenen Vätern respektvoll und ehrerbietig gezeigt hat, die dagegen waren (…).“ Ein Charakterbild wird erkennbar!

Die Spur aber führt von Pius IX. unmittelbar in unsere Gegenwart. Hubert Wolf: „Pius IX hat das charismatische Papsttum erfunden und Johannes Paul II hat es zur Vollkommenheit geführt.“ Und heute kämpft der arme Papst aus Argentinien im Vatikan gegen die, die immer noch glauben, dass genau über Rom die Sonne niemals untergeht.

Straubinger Tagblatt vom 29. August 2020