Ein heißer Sommer. Als junger Soldat, der er zwangsweise war, musste er auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg unmittelbar an Adolf Hitler vorbeimarschieren. Die rechte Hand ausgestreckt zum Führergruß. Am Wochenende zuhause sagt er zu seiner Mutter: „Es wird Krieg geben. Ich habe in die Augen des Führers geschaut. Er will den Krieg.“ Zwei Jahre später ist es soweit. Hitler überfällt Polen und am Ende auch Russland. Eigentlich ist er Religionslehrer. Aber jetzt findet er sich in Stalingrad wieder. Er wird so schwer verletzt, dass die Ärzte ihn aufgeben. Ein anderer Soldat sagt zu ihm: „Komm Kamerad, gib mir Deine Stiefel, die unter Deinem Bett stehen, Du brauchst sie sowieso nicht mehr!“
Der Mann aber wurde gesund und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer der bedeutendsten Religionsphilosophen seiner Zeit. Wenn man die Religionsphilosophie Eugen Bisers aber auf ihren Kern hin durchleuchtet, dann ist es die Erfahrung des Krieges, die das Denken dieses Mannes zuinnerst prägte. Als die ganze Welt nach den Anschlägen auf die Zwillingstürme von New York den Krieg gegen Afghanistan forderte oder ihm wenigstens zustimmte, mahnte der alte Mann: „Von einem Krieg weiß man immer, wie er beginnt, aber niemals, wie er endet“, und stellte sich leidenschaftlich gegen diesen scheinbar so berechtigten und scheinbar so vernünftig begründbaren Krieg.
Heute wissen wir, wie dieser Krieg tatsächlich ausging. Am Ende waren die Amerikaner nicht einmal fähig, den Flughafen von Kabul zu sichern, um ihre eigenen Leute in Sicherheit zu bringen. Wir wissen heute: Alle Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan fielen, ganz gleich aus welchem Land, sind für nichts gestorben. Und der Satz des damaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck, dass die Freiheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werden müsse, dem damals so viele glaubten, gilt heute als einer der dümmsten Sätze der Weltgeschichte.
Immer wieder sprach Eugen Biser fast formelhaft über das Wesen des Krieges; „Der Frieden ist durchzuhalten“, meinte er, oder: „Wer Krieg und Frieden sagt, der hat den Frieden schon an den Krieg verraten.“ Damit meinte er, dass Krieg kein Mittel der Politik sein darf. Eine Weltsicht, die akzeptiere, dass es immer wieder Kriege geben müsse – gleichsam als heilsame Zwischenschritte auf dem Weg in eine bessere Welt – verabscheute er aus tiefstem Herzen. Während Eugen Biser damals in Deutschland das schlimme Schicksal seines Landes mitlitt, trafen sich zeitgleich in London im Exil der wunderbare Schriftsteller Stefan Zweig und der Begründer der modernen Psychoanalyse Sigmund Freud. Als Stefan Zweig dem Psychoanalytiker gegenüber seine Verwunderung zum Ausdruck brachte, in welche zivilisatorischen Abgründe dieses 20. Jahrhundert führe, antwortete Freud nur, dass ihn das überhaupt nicht erstaune.
Was Eugen Biser auf den Schlachtfeldern Europas erlebte und verstand, war dem genialen Psychoanalytiker Freud bei der Erforschung des Unbewussten und der Triebwelt des Menschen aufgegangen. „Das Unbehagen in der Kultur“ heißt sein bis heute bedeutsames Werk, in dem er herausstellt, dass der Firnis der Kultur und der Zivilisation die Aggressionen und den Zerstörungstrieb des Menschen nur mühsam unterdrückt. Kriege führen in die Abgründe des Maßlosen. Sie bringen die dunkelste Seite des Menschen zum Vorschein. Sie sind kulturelle Rückschläge, Zivilisationsbrüche, die entsetzliche Folgen haben. Wer heute entrüstet beklagt, dass es im Ukraine-Krieg schlimmste Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte gibt, der muss sich schon fragen lassen, was er denn erwartet hat. Dass sich die Soldaten, die dort kämpfen, einem Ehrenkodex unterwerfen, als gelte es in einem fairen Spiel mit dem Gegner die Oberhand zu gewinnen? Dass genau dieser Krieg nach anderen Regeln verläuft als die blutigen Kämpfe in Afrika, die wir kaum beachten, oder früher in anderen Ländern der Welt?
Was wir zur Zeit erleben, ist eine kaum merkliche, aber gravierende Verschiebung der Fragestellung, mit der Sigmund Freud oder Eugen Biser gerungen haben. Denn wir diskutieren heute gesellschaftlich nicht mehr darüber, wie wir der Logik eines Krieges entkommen können, sondern darüber, wie wir uns innerhalb der Logik eines Krieges am besten zurechtfinden können. Gefragt wird, welche Waffen am besten „helfen können“, wie es eine Militärexpertin bei Markus Lanz so gerne formuliert. Gefragt wird: Wer wird den Krieg gewinnen ? Wer darf den Krieg nicht verlieren ?
Das sind heute die kriegsimmanenten Argumentationslinien, die die mediale und auch politische Diskussion fast zur Gänze bestimmen. Wir fragen nicht: Was können wir jetzt tun, damit der Krieg sofort endet ? Wir fragen nicht: Welche Verhandlungspositionen sind so realistisch, dass selbst das Putin-Russland sich darauf einlassen muss, diese Positionen ernstzunehmen. Auch realistische Verhandlungsoptionen würden für Druck auf Putin sorgen, vor allem wenn sie öffentlich immer wieder vorgetragen würden, nicht nur Embargos und militärische Gegenoffensiven. Stattdessen sagt der ukrainische Präsident, er wolle erst noch ein paar Schlachten im Osten des Landes gewinnen, um dann eine bessere Verhandlungsposition zu haben. Und in den Parlamenten Europas erheben sich die Männer und Frauen und klatschen dem scheinbar so mutigen Helden begeistert Beifall. Das ist auch ein kultureller Rückschritt! Eine „Erziehung zum Feindbild“ für die Soldatinnen und Soldaten solle es wieder geben, sagt die unsägliche FDP-Politikerin Strack-Zimmermann. Aber haben wir denn nicht schon in der Schule gelernt, dass es für einen demokratischen Staat und eine demokratische Gesellschaft gerade kein Feindbild geben darf ? Wollen wir in der Auseinandersetzung mit dem Russland Putins wirklich all unsere eigenen zivilisatorischen Errungenschaften über Bord werfen ?
Ein hochbetagter und kluger Psychotherapeut, der noch den Zweiten Weltkrieg am eigenen Leib erlebt hat, sagt: „Wissen Sie, Putin ist ein Schizoider, der die Welt verloren hat. Er tötet einen Menschen, der vor ihm steht und spürt nichts mehr dabei. Aber Selenskyj auf der anderen Seite ist ein Hysteriker. Würde er nur einen Augenblick innehalten und nachdenken, welches Leid sein politisches Handeln für die Menschen im eigenen Land bedeutet, so könnte er nicht mehr in dieser Art und Weise weitermachen.“
Das fällt ja wirklich auf: Bei all seinen Fernsehauftritten, wo er immer mehr und immer härtere Waffen fordert, wirkt der ukrainische Präsident wie ein Mann auf einer Mission, auf seiner Mission, zu der er keine Wahl oder Alternative habe. Hat er wirklich nur die Sprache des Krieges als Wahlmöglichkeit ? Wir jedenfalls, so wollen es er und sein giftiger Botschafter in Berlin uns glauben machen, müssen ihrem Weg des Krieges bedingungslos folgen. Und viele auch in Deutschland glauben das tatsächlich.
Den Einwand, den der Philosoph Jürgen Habermas, in seinem großen Text in der „Süddeutschen Zeitung“ vorgetragen hat, dass es „ein frommer Selbstbetrug“ sei, „auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen“, was der Westen aus gutem Grund nicht tut, wird de facto stillschweigend übergangen. Stattdessen gibt es immer wieder Sirenenklänge von interessierter politischer Seite, die vorgibt zu wissen, dass die Ukraine diesen Krieg auch gewinnen könne, wenn sie nur durchhielte. Eine Lüge der ganz besonderen Art, denn sie hält den Krieg am Laufen und am Kochen, ohne dass ein Ende auch nur in Sicht kommt.
„Was würde Helmut Schmidt dazu sagen ?“ Das fragte die Wochenzeitung „Die Zeit“ den langjährigen Vertrauten und Biografen des großen Altkanzlers Thomas Karlauf in dieser Woche. Und der sagte frank und frei, was hierzulande politisch nicht korrekt ist: „In Schmidts Vorstellung bildeten Russland und die Osthälfte der Ukraine einschließlich der Krim eine über viele Jahrhunderte historisch gewachsene Einheit.“ Auf der anderen Seite aber auch: „Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hätte er ebenso verurteilt, wie er das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstrichen hätte.“
Schmidt allerdings hätte versucht, so sein Vertrauter, die Situation politisch zu lösen – und nicht militärisch. Schmidt würde ein Verhandlungspaket auf den Tisch legen oder erarbeiten lassen, „das Putin eine schnelle Beendigung seines Krieges so lukrativ erscheinen lässt, dass er auf Verhandlungen eingeht. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Vertragsbrüche und der Maßlosigkeit des Putinschen Forderungskatalogs zweifellos ein Sisyphosunternehmen – mit dem das Bündnis aber das Heft des Handelns wieder in die Hand bekäme.“
Kanzler Olaf Scholz ist nicht Helmut Schmidt. Aber mit seiner Politik des Zauderns und Zögerns im Handeln und im Sprechen ist er wenigstens ein Gegenpol zur Logik des Krieges, die er auf diese Art und Weise in seiner Person und mit seiner Politik in Frage stellt. Es spricht für ihn, dass er trotz des primitiven Scholz-Bashings in fast allen Medien, die rücksichtslos die Logik des Krieges bedient wissen wollen, in den Umfragewerten für sich und seine Partei den Anschluss an die, die jeden Tag neu offenkundig alles besser wissen, nicht verloren hat.