„Februar 33: Der Winter der Literatur“, diesen Titel gibt der Literaturkritiker Uwe Wittstock seinem Buch, das die ersten sechs Wochen nach Hitlers Machtergreifung beschreibt. Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler Kanzler – und sechs Wochen später ist die Geschichte Deutschlands für mehr als ein Jahrzehnt schon geschrieben und gleichsam besiegelt. Alles, was nach diesen ersten sechs Wochen folgt – an Gewalt, an Morden, an Grausamkeiten in den Konzentrationslagern –, das zeichnet sich wie auf einer Matrix schon in den ersten Tagen des „Dritten Reichs“ ab.
Die Verhaftungen, die Verfolgungen, das Töten, all das wird von Wittstock am Beispiel der Schriftsteller und Intellektuellen beschrieben, die in den Strudel der Gewalt hineingerissen werden. Die einen bleiben in Deutschland, weil sie nicht glauben können, was sie doch sehen. Die anderen flüchten ins Ausland und bleiben dort fremd und sehnen sich nach ihrer Heimat, die es so jetzt nicht mehr gibt: die Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann, die sich über die Schweiz in die USA retten, der bekannte Journalist Theodor Wolff, der sich zwar nach Frankreich durchschlägt, aber dann eben dort 1943 verhaftet und ermordet wird; oder auch Carl von Ossietzky, der 1933 verhaftet und so gefoltert wird, dass er fünf Jahre später an den Folgen seines Martyriums stirbt.
An einem einzigen Tag wurden die Spielregeln des Zusammenlebens zerstört
Das Interessante an Wittstocks Ausführungen ist, dass erkennbar wird, wie an einem einzigen Tag alle Regeln des Zusammenlebens, alle Rechte, die den Bürgerinnen und Bürgern gerade noch zugesprochen worden waren, weggenommen werden und eine zwölfjährige Zeit des Grauens beginnt. Mit dem Weltkrieg und der systematischen Ermordung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wird zwar alles nochmals in böser Weise auf die Spitze getrieben, aber im Februar 1933 ist alles schon da, alles les-und erkennbar, was dann in den nächsten 12 Jahren von Hitler und den Seinen den Menschen angetan wird. Die Weimarer Republik war mit einem einzigen Tag verschwunden, alle Regeln eines friedvollen Miteinanders in einer Gesellschaft, in der das Leben der Anderen respektiert wird, außer Kraft gesetzt.
Die Brutalität, die einer entfesselten Gesellschaft innewohnt, die sich vorher immerhin noch mit Mühe an die Spielregeln eines zivilisierten Miteinanders gehalten hatte, beschreibt Wittstock am Beispiel des Schriftstellers Manès Sperber so: „Seine Eskorte führt ihn aus dem Haus zu einem der offenen Lastwagen, auf deren Ladefläche mehrere Bankreihen montiert sind. Dort muss er sich neben die anderen Verhafteten setzen, einige von ihnen bluten, sie haben aufgeplatzte Lippen oder Wunden am Kopf. Dreißig bis vierzig Neugierige umstehen die Lastwagen … eine der Zuschauerinnen, eine ältere Frau, beschimpft die Gefangenen, schlägt nach einem von ihnen, rutscht dabei aus, tut sich weh und schreit auf. Sofort stürzen andere in Richtung des Angegriffenen und schlagen auf ihn ein. Ein Junge, noch zu klein, um den Mann erreichen zu können, springt an der Ladefläche hoch und spuckt ihm ins Gesicht. Schon Augenblicke später prügeln fast alle Umstehenden wahllos auf die Verhafteten ein … Während Sperber den Fäusten auszuweichen versucht, sieht er ein altes Ehepaar, das sich aus einer Zufahrtsstraße quer über den Platz auf die Lastwagen zubewegt. Der Mann kann nur mühsam gehen und stützt sich auf einen Stock … Dennoch macht er Anstrengungen, sich so schnell wie möglich in den Kreis des Lynchmobs vorzuarbeiten. Am Laster angekommen, schwingt er seinen Stock, drischt auf die Festgenommenen ein und brüllt …“ So verselbstständigt sich Gewalt, alle Schranken, die in einer bürgerlichen Gesellschaft aufgerichtet wurden, um zivilisiert miteinander zu leben, fallen weg und den eigenen Aggressionen wird wahl- und ziellos nachgegeben.
12 Jahre später: Benjamin Ferencz, als amerikanischer Soldat aus ärmlichsten Verhältnissen nach Europa gekommen, wird mit der Rolle des Chefanklägers im Einsatzgruppen-Prozess, einem der zwölf Nachfolgeprozesse im Rahmen der Nürnberger Prozesse, betraut. Vorher besucht er die Konzentrationslager, die gerade befreit wurden. Eine Welt des Grauens, die ihn verstört und die er kaum aushalten kann. In seinen Erinnerungen, die er im Alter von 100 Jahren vor kurzem vorgelegt hat, schildert er eine für ihn unvergessliche Situation: „Die verbliebenen SS-Leute in den Lagern flohen vom Ort des Geschehens. Die meisten Insassen waren zu krank und schwach, um sich zu bewegen, doch es gab einige, die relativ fit und umtriebig waren. In einem Lager sah ich, wie sie sich einen der Wächter schnappten und ihn verprügelten, bis er halb bewusstlos war. Dann legten sie ihn auf eine Trage und schleppten ihn zum Krematorium, schoben ihn hinein und ließen ihn brutzeln. Doch bevor er daran starb, zogen sie ihn heraus, schlugen erneut auf ihn ein und schoben ihn wieder hinein. Das wiederholten sie drei oder vier Mal, bis er ordentlich durchgebacken und garantiert tot war.“
Unsere Freiheit, auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu antworten
Dass durch diese Schilderung des New Yorker Juden Benjamin Ferencz wenig Mitleid hindurchscheint, ist mehr als naheliegend. Aber sichtbar wird auch hier, zu welchem Maß an Gewalt und Aggression der Mensch tendiert, gerade dort, wo er sich im Recht sieht oder gar im Recht ist. Ferencz, der Jahre später zu einem Mitbegründer des Strafgerichtshofs in Den Haag wird, schreibt dennoch wenige Zeilen später: „Rache ist schrecklich. Aber sie ist eine Folge von Mord … Ich weiß, was Rache anrichten kann; ich habe es erlebt, … es ist furchtbar … Rachegelüste sind menschlich, aber wir müssen uns gegen sie wehren. Werde nicht zu dem, was du verabscheust. Wenn du das tust, wirst du zum Feind anderer Menschen und der Kreislauf hört niemals auf.“
Gewalt, Gegengewalt und Gegengegengewalt: Manchmal weiß man, wer einen Krieg begonnen hat, manchmal weiß man es nicht. Sobald mit Krieg und Gewalt begonnen wird, verschwimmen die Maßstäbe des Menschlichen, die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Gewalt hat viele Gesichter. Die Gewalt des Psychopathen. Die latente Gewalt, die sich kaum zu erkennen gibt. Strukturelle Gewalt. Sexualisierte Gewalt. Seelische Gewalt.
Der Münchner Religionsphilosoph Eugen Biser hat von einer „sekundären Aggressivität des Menschen“ gesprochen, der eigentlich „auf Solidarität angelegt und somit zur Liebe disponiert sei“. Aber das Entscheidende für Biser ist: Der Mensch „schlägt, auch wenn der Eindruck einer Spontaninitiative entsteht, zurück, und dies immer dann, wenn er sich in die Enge getrieben, in seinen Interessen geschmälert und um seine Lebensrechte betrogen fühlt. Mit Aggressivität reagiert er somit auf die Bedrohungen seines Selbsterhaltungstriebs, seines Selbstwertgefühls und damit seiner biologisch-geistigen Existenz. Erfahren wird diese Bedrohung jedoch im Erlebnis der Angst, die damit in einer ihrer elementarsten Formen in Erscheinung tritt“.
Das zu verstehen, ist allerdings eine Chance, mit Gewalt und Aggression besser umzugehen. Abstand zu nehmen von einer primär intuitiv und emotional getragenen Reaktion auf Aggression, die Gewalt mit Gewalt beantwortet und damit verstärkt. Menschen haben viele Gesichter. Sie können wählen oder wenigstens versuchen zu wählen. Sie stehen in der Freiheit der Wahl, so sagen es die Philosophen und auch die Psychologen. Demokratien müssen wehrhaft sein, und jeder einzelne Mensch muss sich verteidigen dürfen und können.
Aber jeder Mensch kann sich entscheiden, was er tut oder auch nicht tut. Er kann Grenzen ziehen – durch sein Denken, das Abstand zu primärer Intuition und Emotion schaffen kann. Und wir müssen uns selbst doch auch immer wieder fragen: Tue ich alles, was in meiner Macht steht, um Frieden zu halten oder Frieden zu schaffen? Nehme ich meine Freiheit, Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten, wahr? Schöpfe ich die Möglichkeiten der Sprache, die in ihrem Wesen auf Verständigung angelegt ist, voll aus? Lote ich jeden Tag neu die Spielräume aus, die Frieden möglich machen, auch wenn mein Gegenüber sich der Gewalt verschrieben hat und offenkundig auch gewillt ist, sich ihr weiterhin zu verschreiben?
Wo ein Friedenswille erkennbar wird, können Wunder geschehen
Wo Gewalt regiert, ändert sich nichts. Am ersten Tag der Machtergreifung Hitlers ist schon alles sichtbar, was dann 12 Jahre lang geschehen wird. In den ersten Wochen des Ukraine-Kriegs wurde ganz schnell klar, dass das ein Krieg ist, der auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wird, der keine Rücksichten nimmt, wenn keine Kompromisse gemacht werden.
Eingewandt wird immer, dass Putin für Friedenslösungen nicht ansprechbar sei. Aber eine Friedenshaltung von dem, der angegriffen wurde und nicht mit Gewalt reagiert, ist am Ende nicht nur ein Angebot an den Anderen. Es ist erst einmal ein Angebot an sich selbst. Wo Friedenswille erkennbar wird, da können Wunder geschehen, die Waffen nicht ausrichten konnten. Letztlich ist jeder Versuch, Frieden zu wahren oder Frieden zu schaffen, ein spirituelles Geschehen. Ein Angebot nicht nur an den Anderen, sondern – um es einmal religiös auszudrücken – ein Gebet an und für den Anderen.
Literatur: Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur. 6. Auflage, C. H. Beck Verlag, München 2022, 288 Seiten, 24 Euro.• Benjamin Ferencz: Sag immer Deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben. Heyne Verlag, München 2020, 160 Seiten, 17 Euro.• Eugen Biser: Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. 2. Auflage, Patmos Verlag, Düsseldorf 1996. Der Titel ist nur noch gebraucht oder antiquarisch beziehbar.
Straubinger Tagblatt vom 9. Juli 2022