Mit „Der Kaiser, dem die Welt zerbrach“ hat der Historiker Heinz Schilling ein ebenso erhellendes wie aufregend zu lesendes Buch über Karl V. geschrieben
Um unsere Gegenwart zu verstehen, schauen wir gerne auf unsere Geschichte zurück. Auf das 20. Jahrhundert mit seinen schrecklichen Kriegen, der Teilung der Welt in zwei feindliche Blöcke, dann die Neuordnung in einem Europa, das in sich zerrissen bleibt und im neuen Jahrtausend immer stärker zeigt, dass die Risse nicht weniger, sondern mehr und stärker werden. Oder auf das 19. Jahrhundert, als sich die Nationen bilden, in Deutschland 1871, nachdem Frankreich besiegt wurde und die deutsch-französische Feindschaft beginnt und fast über 100 Jahre währt.
Allenfalls blicken wir noch ins 18. Jahrhundert zurück, auf Goethe und Schiller und vor allem auf Kant und seinen Ruf, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu erwachen. Und auf das Ende der Monarchie in Frankreich mit der blutigen Französischen Revolution 1789, dem Beginn von Parlamentarismus und Demokratie – in Deutschland dann erst 150 Jahre später, wovon die Historiker noch immer erzählen.
Obwohl er deutscher Kaiser war, sprach Karl V. kein Wort Deutsch
Was wir allzu leicht vergessen: Es ist das 16. Jahrhundert, in dem das Fundament gelegt wird, auf dem die europäische Welt bis heute immer noch ruht. Luthers Einspruch gegen die Dekadenz der Kirche, ein Aufbruch des Denkens, den Philosophen durchaus als Frühaufklärung bezeichnen, die Erfindung der Druckerpresse, die die Welt verändert – und gleichzeitig mit dem Schiff die Entdeckung und Eroberung neuer Kontinente, die plötzlich zugänglich werden. Zugleich der Blick zurück auf das Mittelalter mit all seinen Herrschern und Traditionen, das noch nicht Geschichte ist, sondern seine Prägekraft auf dieses 16. Jahrhundert mit all seiner Macht ausübt.
„Der Kaiser, dem die Welt zerbrach“, so nennt der Historiker Heinz Schilling sein hervorragendes Porträt von Karl V., der die zentrale Figur dieses Jahrhunderts der anbrechenden Moderne ist. Schilling beschreibt mit ihm aber nicht nur einen faszinierenden Kaiser, sondern er wirft zugleich einen tiefen Blick in diese Zeit, die er so aus gutem Grund „die Sattelzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit“ nennt. Diesen Oktober sind es exakt 500 Jahre, dass sich Karl im Dom zu Aachen zum Deutschen König und zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wählen lässt. Und dass damit eine Regierungszeit beginnt, die 35 Jahre dauern sollte und ihre Prägekraft auf die ganze Welt und ihre Zukunft ausdehnen sollte.
Was heute oft vergessen wird, ist, dass dieser deutsche König kein Wort Deutsch sprach und dass sich um die deutsche Krone auch die anderen Herrschaftshäuser bewarben: Heinrich VIII. von England und Franz I. von Frankreich. Noch machten die Königshäuser Europas die Macht unter sich aus und warben um die Stimmen der sieben Kurfürsten, die nach der deutschen Verfassungsurkunde, der Goldenen Bulle aus dem Jahr 1356, bestimmen sollten, wer König und Kaiser werden dürfe. Die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier und die Kurfürsten von Brandenburg, Sachsen, der Pfalz und der König von Böhmen, das waren die Beteiligten des Verfahrens. Eine Million Goldgulden kostete es am Ende das Haus Habsburg, die Wahl für sich zu entscheiden, und es war nicht zuletzt die Familie der Augsburger Fugger, eine frühkapitalistische bürgerliche Welt also, die diese Wahl möglich machte.
Aus Burgund stammt Karl V., so dass die Städte, aus denen unser heutiges Europa herauswächst, nicht Paris oder Berlin heißen, sondern Gent, Brüssel oder Antwerpen. Aus dem heutigen Belgien und Holland, dem damaligen Burgund, das zwischen Frankreich und Deutschland liegt, entspringt die Hochkultur des Spätmittelalters, in der Karl V. aufwächst. Mit seinem Bruder Ferdinand beherrscht er Spanien und Deutschland, dazwischen liegt Frankreich, mit dem immer wieder Kriege geführt werden. Aber mächtig sind nicht nur die anderen Könige in Frankreich und England, sondern vor allem auch die Fürsten und Herzöge, also die Reichsstände, aber auch die aufblühenden Städte, mit denen es sich ständig ins Benehmen zu setzen gilt.
Davon erzählt der Historiker Heinz Schilling so spannend, dass man sich buchstäblich ins 16. Jahrhundert zurückversetzt fühlt. Als Karl 1538 in Spanien erfährt, dass sich seine Geburtsstadt Gent den Steuerforderungen seiner Statthalterin widersetzt, eilt er nach Hause und lässt die Rädelsführer mitten in der Stadt köpfen. Die Entschuldigung des Stadtrats nimmt er nur in einer „demütigenden Bittprozession im Büßerhemd und mit dem Galgenstrick um den Hals“ an. Harte Zeiten! Auch für seine eigenen Schwestern, die im Rahmen der königlichen Verwandtschaft dorthin verheiratet werden, wo es politisch Sinn macht. Für Liebe und Gefühle kein Platz, auch wenn die eine oder andere darunter leidet.
Karl V. ist tiefgläubig und mehr Christ als die Päpste seiner Zeit
Von Luther weiß Karl noch nicht, dass er eine eigene Konfession gründen wird, weil Luther das selbst noch nicht weiß. Noch kämpfen alle Beteiligten um den rechten Weg zu Gott, Erasmus sanfter als Luther und Melanchthon maßvoller als Calvin. Wer am Ende die Geschichte prägen wird, wissen vorerst noch nicht einmal die Beteiligten selbst. Der Papst ist mächtig und will immer noch mehr Macht, Karl V. ist dagegen tiefgläubig und mehr Christ als die Päpste seiner Zeit. Gemeinsam verteidigt man Europa gegen die Türken, aber erst der uneheliche Sohn von Karl V., Don Juan de Austria, wird es sein, der 1572 die Vormacht der Türken endgültig bricht.
Ein „Reisekaiser“ ist Karl V., er ist nirgends zuhause, immer unterwegs, um seinen Herrschaftsbereich abzusichern. Um sich zu entspannen, trinkt er maßlos Bier, was ihm am Ende nicht bekommt. Wie Deutschland ist auch Italien noch jahrhundertelang keine Nation. Es kämpfen Frankreich, der Kaiser und der Papst um Mailand oder auch Parma und all die anderen Herzogtümer, die es gibt. Auch jetzt wird wieder erfolgreich Heiratspolitik betrieben: Ein Verwandter der Päpste heiratet die Tochter des Kaisers, damit endlich in Italien Frieden herrscht. Fragt sich immer nur, wie lange. Und immer sind es Macht und Religion, die als entscheidende Motive die Geschichte prägen.
Wo auch immer Karl V. sich in der Welt machtvoll durchsetzt, glaubt er stets, dies im Auftrag Gottes zu tun. Als im Augsburger Religionsfrieden 1555 ein Kompromiss mit dem neuen Glauben gemacht werden muss, der dem persönlichen Glauben des Kaisers zutiefst widerstrebt, glaubt er sich von Gott nicht mehr getragen – und tritt als Kaiser zurück. Heinz Schilling schreibt darüber: „Wenn ein Weiterregieren das Heil seiner Seele in Gefahr brachte, dann hatte er das Recht, ja die Pflicht abzudanken. Darüber waren sich die Humanisten und Theologen einig. Mit dieser Lehre war Karl großgeworden. Der Verzicht Kaiser Karls V. war zugleich ein Akt tiefer Herrscherhumanität in einem Moment, in dem der skrupellose Realismus machiavellistischer Politiktheorie sich in Europa seinen Weg bahnte.“
Keine zwei Jahre bleiben Karl noch, der sich jetzt als Privatmann, dankbar, dass seine Regierungszeit vorbei ist, in ein Haus auf einem Klostergelände des Hieronymiten-Ordens nach Spanien zurückzieht. Als er im September 1558 stirbt, ist der ehemals mächtigste Mann seiner Zeit voller Angst, ob Gott seine Seele erlösen wird. An seinem Sterbebett steht der Erzbischof von Toledo Bartolomé de Carranza, der ihn mit dem Satz tröstet: „Eure Majestät setzt Ihr ganzes Vertrauen auf das Leiden Christi, unseres Erlösers. Alles andere ist lächerlich“, um ihm so in der Todesstunde die Angst zu nehmen. Ein wunderbarer Satz.
Nach dem Tod des Kaisers wird der Erzbischof für diesen Satz 15 Jahre in spanischen und italienischen Kerkern eingesperrt, weil er als „Verspottung und (protestantische) Missachtung des katholischen Bußsakraments ausgelegt“ wurde. Harte Zeiten, brutale Zeiten! Der Historiker Heinz Schilling hat mit seinem Porträt von Karl V. ein glänzendes Buch geschrieben, das sich stellenweise wie ein Krimi liest. Jedem, der sich für die Geschichte Europas interessiert, sei es unbedingt ans Herz gelegt!
Heinz Schilling: Karl V. – Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. C. H. Beck Verlag, München 2020, 457 Seiten, 29,95 Euro.
Straubinger Tagblatt vom 19. September 2020