Verehrt und verhasst: Der Glaubenskrieg um den Virologen Christian Drosten“, so titelte das Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ seine Ausgabe vom 30. Mai. Der Fall ist klar und bekannt: Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, stellte eine Studie über die Infektiosität von Kindern ins Netz, die er als Ausgangspunkt einer Debatte verstanden wissen wollte, ob es nicht doch so sei, dass Kinder sehr viel leichter das Virus Covid-19 übertragen, als dies bisher allgemein angenommen wurde.
Diese Studie war ein erster Entwurf, sicher unter Zeitdruck entstanden, gemeint als Anstoß, wissenschaftlich mehr Wissen einzubringen, um die Gesellschaft schon für die nahe Zukunft besser zu schützen. Diese Studie war ein sogenanntes „Preprint“, also ein Diskussionsmodell auch für andere Wissenschaftler, die auf diese Weise eingeladen wurden, sich an dieser Fragestellung zu beteiligen.
Die schwierige Frage nach der Objektivität der Wirklichkeit
Kritik gab es daraufhin vor allem von Wissenschaftskollegen aus dem Fachbereich der Statistik, die einwarfen, dass das gesammelte Material nicht ausreiche, um wissenschaftlich sauber zu argumentieren. Das war allerdings auch nie die Absicht des Virologen gewesen. In einem Radio-Interview antwortete er deshalb auf diese Kritik mit den Worten: „Ein geübter Virologe sieht auf den ersten Blick, was da los ist“, so dass klar wurde, dass es ihm nicht um eine statistische Letztbegründung ging, sondern um eine wissenschaftliche Diskussion, die aus seiner Sicht allerdings deutlich in eine bestimmte Richtung wies. Mittlerweile liegt eine zweite Studie von ihm vor, die wissenschaftlich relevanter ist, deren Ergebnisse aber den Rohentwurf der ersten Studie bestätigen.
Gesellschaftlich interessant ist, was dann passierte. Die „Bild“- Zeitung blies die wissenschaftlichen Einwürfe der Statistiker zu einer Fundamentalkritik an dem seriösen Wissenschaftler auf. „Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch“ titelte die Boulevardzeitung und fiel über den angesehenen Virologen regelrecht her.
Dieser Fall ist deshalb so interessant, weil sich mit den Medien auf der einen Seite und dem Wissenschaftsbetrieb auf der anderen Seite zwei gesellschaftsrelevante Systeme gegenüberstehen, die beide einen vergleichbaren Anspruch erheben: nämlich Fakten möglichst objektiv zu erkennen und zu kommunizieren. Jeder Journalismusstudent kennt die Forderung, dass eine Nachricht „möglichst objektiv“ geschrieben sein muss; und jeder angehende Wissenschaftler weiß, dass er so nahe wie möglich an die „objektive“ Wirklichkeit herankommen will, dass ihm aber jede echte Objektivität verwehrt bleibt.
Dieses Wissenschaftsverständnis, dass alles Erkennen nur vorläufig ist, dass es immer nur kleine Schritte gibt, die beim Erkenntnisfortschritt weiterhelfen, dass alles Forschen ein Experimentieren bleibt, das sich zwischen „Versuch und Irrtum“ bewegt, hat am besten der Philosoph Karl Popper herausgearbeitet. Letztlich ist es bei ihm die entscheidende Basis seiner wissenschaftlichen Methodik, die sich durch all seine Schriften zieht.
Die Kritik der Statistiker und Ökonomen wurde von „Bild“ sinnverzerrt
In seiner Schrift „Das Elend des Historizismus“ (1944/45) formuliert er es in brillanter Weise: „Es gibt keine scharfe Trennungslinie zwischen dem vorwissenschafltichen und dem wissenschaftlichen Experimentieren, wenn auch die immer bewußtere Anwendung wissenschaftlicher, d. h. kritischer Methoden von großer Bedeutung ist. Sowohl vorwissenschaftliche als auch wissenschaftliche Experimente bedienen sich im Grunde der gleichen Methode: sie gehen mit Hilfe von Versuch und Irrtum vor. Wir versuchen, d. h. wir registrieren nicht einfach Beobachtungen, sondern bemühen uns aktiv, mehr oder weniger praktische und klar umrissene Probleme zu lösen. Und wir machen dann und nur dann Fortschritte, wenn wir bereit sind, aus unseren Fehlern zu lernen. Alle Theorien sind Versuche, sind vorläufige Hypothesen, die erprobt werden, damit man feststellen kann, ob sie funktionieren, und jede experimentelle Bewährung ist nichts als das Ergebnis von Prüfungen, um herauszufinden, wo unsere Theorien irren.“
Drosten hat sich also nach Popper idealtypisch verhalten: Er hat zum einen seine vorwissenschaftliche Intuition erprobt und dann eine kleine Studie als wissenschaftliche Hypothese in den Raum gestellt. Wenn er dann sagt, dass er als Virologe mit „geübtem Blick“ sofort sehe, was los sei, schlägt er wiederum die Brücke zu seiner Alltagserfahrung. Das alles ist durchaus seriös. „DER SPIEGEL“ urteilt zutreffend: „Diese Studie stellte er ins Netz, damit es Kollegen begutachten und kritisieren können. Eine Gewissheit sollte nicht verkündet werden.“
Zwei Aspekte auf journalistischer Seite sind dem Wissenschaftsaspekt vergleichbar. Zum einen der Zeitmangel: Gerade einmal eine Stunde wurde Drosten von dem „Bild“- Journalisten gegeben, um Stellung zu beziehen. Die Boulevardzeitung hatte die Geschichte über Drosten geschrieben, und dem Betroffenen wurde nur ein minimales Zeitfenster eingeräumt, um Stellung zu nehmen. Außerdem wurde nur ein kleiner Ausschnitt von Wirklichkeit dargestellt, der scheinbar objektiv stimmig war. Echte Recherche sieht anders aus!
Und das Zweite: Die Kritik von Ökonomen und Statistikern an der Studie von Drosten wurde so falsch ausgedeutet, dass sie sich sofort von der „Bild“-Geschichte distanzierten. Objektiv war zwar etwas richtig benannt worden, aber es wurde bewusst manipuliert und tendenziös verfälscht. Drosten sagt deshalb: „Und ich hatte auch nicht den Eindruck, als sei die ‚Bild‘-Zeitung wirklich daran interessiert, das wissenschaftliche Problem zu verstehen. Es war klar, dass sie einen tendenziösen Artikel planten. Nach der Veröffentlichung zeigte sich dann auch, dass sie mit den vier kritischen Statistikexperten nicht einmal gesprochen, sondern nur online verfügbare Zitate aus dem Zusammenhang gerissen hatten.“
„Sollte ich mich fürchten? In meinem Alltag kommt die ‚Bild‘-Zeitung nicht vor“
Und warum das Ganze am Ende? Die Antwort ist einfach: Keine Zeitung in Deutschland hat einen vergleichbaren Bedeutungsschwund hinter sich wie die „Bild“-Zeitung. Die virtuelle Medienwelt hat wesentliche Funktionen dessen übernommen, für was „Bild“ immer stand: Emotionen wecken, Aggressionen verstärken, Gerüchte lancieren. Wer mit der „Bild“ im Fahrstuhl nach oben fährt, der fährt mit ihr wieder nach unten, so hieß es früher. Heute fährt dieser Fahrstuhl nur noch in bedeutungslose Mitteletagen. Einen Bundespräsidenten wegzuschreiben oder auch sonst Menschen zu schaden – die Möglichkeiten der „Bild“ werden von Jahr zu Jahr weniger.
Es ist der Phantomschmerz der verlorenen Macht in unserer Gesellschaft, der zweitklassige Redakteure zu den verwegensten Mitteln greifen lässt. Oder wie es „DER SPIEGEL“ über Chefredakteur Julian Reichelt schreibt: Er will zeigen, „dass ‚Bild‘ noch die alte Kraft hat trotz sinkender Auflage. Dass sie entscheidet, wer in Deutschland zu den Gewinnern zählt und wer zu den Verlierern. Dass sie Karrieren ermöglichen, aber auch zerstören kann“. Aber das ist alles vorbei. Und so sagt der Virologe Christian Drosten: „Sollte ich mich fürchten? Kann ich mir nicht vorstellen. Das letzte Mal, dass ich die ‚Bild‘ gelesen habe, das war zu Zeiten von ‚Bumm-Bumm-Boris‘. In meinem Alltag kommt die ‚Bild‘-Zeitung nicht vor. Niemand in meinem Bekanntenkreis liest das Blatt.“
Straubinger Tagblatt vom 13. Juni 2020