Ost und West teilt sich eine Handschrift – Man sagt, dass sich alles immer wieder wiederholt – anscheinend auch in der Geschichte. Der Krieg wird von Tag zu Tag dreckiger, damals Napalm und Herbizide – heute Streubomben

Wir schreiben das Jahr 1968. Es ist Sommer. August. Aber für die Menschen in der Tschechoslowakei ist noch Frühling. Der „Prager Frühling“. Eine Reformbewegung um den Präsidenten Dubcek grenzt sich seit Monaten ab vom Steinzeitkommunismus Moskaus. Mehr Freiheit, mehr Wirtschaft, mehr Wohlstand. Sozialismus ja, aber nicht mehr die eisernen Ketten des Kommunismus.
Da rollen die Panzer. 500 000 Soldaten des Warschauer Pakts marschieren ein. So hat es Moskau entschieden. In unseren Schulbüchern wird sich Jahre später das Bild finden, auf dem sich ein Bürger mit aufgerissenem Hemd vor einem russischen Panzer aufbaut. Ein Bild der Verzweiflung. Widerstand aber letztlich zwecklos. Die führenden Politiker der Tschechoslowakei werden festgenommen und nach Moskau gebracht. Sie sollen dort sogar ermordet werden. Dem Staatspräsidenten des Landes gelingt es, das zu verhindern. Was für die Menschen in der Tschechoslowakei folgt, sind 21 Jahre mit äußerst beschränkten Freiheitsrechten. Zwölf Jahre vorher hatte es Moskau mit Ungarn nicht anders gemacht. Die Front des Warschauer Paktes soll, muss stehen.
Unser Karikaturist Dieter Hanitzsch blickt im Jahr 1968 in der Münchner „Abendzeitung“ aber auch auf die andere Seite des Atlantik. Das bis dahin schlimmste Jahr des Vietnamkriegs. Wir erinnern uns: Mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson sind die USA drei Jahre zuvor in diesen Bürgerkrieg eingetreten. Der kommunistische Norden kämpft gegen den Süden. Will ein einiges kommunistisches Vietnam. An der Seite des Südens mit seiner Hauptstadt Saigon die USA. Es gilt für die amerikanische Regierung die sogenannte „Dominotheorie“. Jede Freiheitsbastion, die fällt, ist eine Gefahr für die Demokratie im Westen, so denken die amerikanischen Regierungen. Weltweit setzen auch die Amerikaner auf Gewalt, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Ihre Partner allzu oft: Korrupte Regierungen, die mit den Begriffen Freiheit und Demokratie operieren und doch nur die eigene Machterhaltung verfolgen. Damals der Teufel in Person: Henry Kissinger!
Der Frieden ist 1968 schon in greifbarer Nähe und Kissinger sitzt mit am Tisch bei den Pariser Friedensverhandlungen, die schon kurz vor einem erfolgreichen Abschluss stehen. Und was macht er? Er sabotiert heimlich die Friedensverhandlungen, um wenige Tage später nach Nixons Wahlsieg den Krieg gemeinsam mit dem neuen republikanischen Präsidenten fortzusetzen. Er will gewinnen – nicht den Frieden, sondern den Krieg.
Er spielt buchstäblich ein doppeltes Spiel. Weil er nicht weiß, wer die Präsidenten-Wahl gewinnen wird, liefert er für beide Seiten. Willy Brandt aber fordert in Bonn im selben Jahr für Deutschland den Rückzug der USA aus Vietnam.
Keine Chance: Die Amerikaner verschießen insgesamt 80 Millionen Liter Herbizide mit extrem hohen Dioxingehalt. Ein Gift, das nicht unter die Ächtung der Chemiewaffen fällt, aber vergleichbar wirkt. Kissinger findet heraus, dass um 16 Uhr nachmittags auf den Straßen Vietnams der meiste Verkehr ist. Also wird zu dieser Zeit bombardiert. Die Opfer: Familien, Kinder, Zivilisten. 1969 sorgt Kissinger als Sicherheitsberater Nixons dafür, dass der Krieg auch ins Nachbarland Kambodscha getragen wird, vermeintliche Rückzugsorte des Kriegsgegners. Kissinger sagt: Es geht um „Gesichtswahrung“. Wir müssen das Schlachtfeld als Sieger verlassen.
Im Januar 1973 ist es vorbei. Das Pariser Friedensabkommen bedeutet, dass Amerika das Schlachtfeld als Verlierer ganz verlässt. Kissinger unterschreibt den Friedensvertrag und holt sich für diese Unterschrift den Friedensnobelpreis. Eine Farce! Kurz vor der Unterschrift noch ein letztes großes Massaker, letztlich Vergeltung für den verlorenen Krieg. Vietnam wird drei Millionen Tote später ein Land. Kommunistisch, aber der Krieg ist vorbei. Fast 60 000 amerikanische Soldaten sind tot, für nichts. Die Folgen der Giftangriffe durch die USA gehen über Generationen. Für die Menschen und das Land. Und der Krieg in Kambodscha hat zudem die Gewaltherrschaft der Roten Khmer herbeigeführt. Hier sterben nochmals zwei Millionen Menschen.
Kissinger aber ist zu diesem Zeitpunkt längst mit Südamerika beschäftigt. In Chile gibt es den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Er ist demokratisch gewählt und die chilenische Armee ist diesem Präsidenten bei aller Skepsis loyal gesinnt. Vor allem ihr oberster Heeresführer General René Schneider. Henry Kissinger organisiert 250 000 Dollar und lässt ihn 1970 mit einem Anschlag von gedungenen Mördern töten.
Aber erst drei Jahre später wird es Kissinger und den USA gelingen, den Diktator August Pinochet an die Macht zu bringen. Der Rest ist bekannt. Tausende von Menschen verschwinden, werden gefoltert und ermordet. Mit Hubschraubern bei lebendigem Leib betäubt über dem Meer abgeworfen, wo sie ertrinken. Bis 1990 dauert die Schreckensherrschaft Pinochets, Herrscher von Kissingers Gnaden.
In deutschen Gymnasien wird in den 70 und 80er Jahren gelehrt: im Westen die Guten, im Osten die Bösen. Nicht ganz falsch, aber vor allem auch nicht richtig. Die NATO mit den USA ein Verteidigungs- und Wertebündnis? Nicht nur: Die Handschrift der USA bleibt dieselbe wie auch die Moskaus. Nicaragua, Afghanistan, am Ende der Krieg gegen den Irak, der auf Lügen basiert und zum erkennbaren Wiederholungsformat Vietnams wird. Wie schon Willy Brandt ist es wieder ein Sozialdemokrat, der diesem Krieg lauthals widerspricht.
Wieder sterben die Frauen und Kinder und auch die amerikanischen Soldaten. Wieder für nichts! Amerika geht und das Land versinkt im Bürgerkrieg.
Was vor allem in Vietnam erkennbar wird. Je mehr Soldaten kommen, desto sinnloser wird das Morden. Das Land ertrinkt in Blut. Die USA haben dort nichts verloren, auch wenn sie vermeintlich ihren Kampf um die weltweite Demokratie führen. Die Schicksale der traumatisierten Soldaten, die drogensüchtig und gewalttätig aus dem Krieg zurückkehren, hat später der amerikanische Romancier Philipp Roth so glänzend beschrieben.
Am Ende gibt auch ein Bild den Ausschlag, dass der Krieg in Vietnam aufhört: Das neun Jahre alte Mädchen Kim Phuc läuft von einer Napalmbombe entstellt durch ihr Dorf und weint. Ein amerikanischer Fotograf hält das im Bild fest. Diesem Bild eines einzigen zerstörten Lebens hält keine Kriegsrhetorik mehr stand. Die Weltöffentlichkeit will nicht mehr.
Was wir von Vietnam lernen: Kriege führen in Spiralen nach unten. Nach ganz kurzer Zeit gibt es kein Gut und kein Böse mehr, sondern nur noch Gewalt und Hass. Am Ende Traumata derer, die dort waren und nicht wussten, was mit ihnen geschieht. Gewalt gegen Zivilisten, gegen Frauen und Kinder und Alte. Die interessierten Politiker auf allen Seiten erzählen nichts vom Alltag des Krieges. Sie halten ihre abstrakten politischen Konzepte durch und mahnen den Sieg an. Gesichtsverlust, wie Kissinger das formulierte, muss ausgeschlossen werden, ganz gleich, was das kostet, auch an Menschenleben. Der Krieg wird von Tag zu Tag dreckiger, damals Napalm und Herbizide, heute Streubomben, die international doch längst geächtet sind. Auf beiden Seiten der Front.
Wer heute in den Geschichtsbüchern des Vietnamkriegs blättert, der muss den Kopf schütteln über den Irrsinn, wie er damals veranstaltet wurde. Und im Südteil Vietnams korrupte Politiker, denen es mit der Unterstützung Amerikas vor allem um die eigene Machterhaltung ging. Ihre Namen sind längst vergessen. Henry Kissinger? Tourt heute durch die Welt und gibt sich den Anschein des „Elder Statesman“. Viele glauben ihm und kaufen seine Bücher.
Kissinger ist jetzt 100 Jahre alt und Gott will ihn offensichtlich nicht zurück. Wenigstens diesen Teil des Gottesgeheimnisses kann man verstehen! Der Künstler Dieter Hanitzsch? Zeichnet 60 Jahre später nach einigen Umwegen immer noch kluge Karikaturen für die Münchner „Abendzeitung“. Und die „Abendzeitung“ selbst, die heute zu unserer Verlagsgruppe gehört? 55 Jahre später? Im August 1968 schreibt Helmut Schmidt, damals Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, mit Blick auf Moskau in einem Gastbeitrag: „Unser Wunsch, in dieser Situation doch etwas zur Hilfe tun zu können, und unsere Enttäuschung angesichts der Invasion, die den Entspannungsbemühungen vieler europäischer Regierungen ins Gesicht schlägt, führt jedoch niemand in Bonn zu nassforschen Konsequenzen. Der Bundeskanzler und die Parteien haben den Willen, an den Zielen unserer Friedenspolitik festzuhalten.“ Für solche Gastbeiträge sind wir auch 50 Jahre später immer noch offen!

Quellenhinweis: Wilfried Huismann, Der Fall Kissinger. WDR 2003. Im Internet jederzeit abrufbar. 

Straubinger Tagblatt vom 29. Juli 2023