Das Morden in Auschwitz hatte er überlebt. Nur sein Vater und er kamen dann in den Todesmärschen auch noch nach Buchenwald. Der Rest der Familie war jetzt tot. Eines Tages, ganz kurz vor Kriegsende, wird er als Arbeiter in den Garten des Bürgermeisters von Buchenwald gerufen. Er entdeckt in diesem Garten das Futter für die Hasen – und isst es. Jetzt wird er dort verprügelt vom Bürgermeister und den Seinen. Mit einem Freund macht er sich wenige Tage später nach dem Ende des Krieges und seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald auf – zum Haus des Bürgermeisters. Das Ziel ist klar und verständlich: Rache. Wie weit sie geht, alles ist möglich. Als er an der Haustür klingelt, öffnet die Frau des Bürgermeisters mit einem neugeborenen Kind auf dem Arm. Unser Mann ist fassungslos. Sprachlos bleibt er kurz stehen. Dann kehrt er um. Er kann seine Hand nicht richten gegen eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. Er verzichtet auf jede Gewalt.
Der Prediger von St. Michael in München, der Jesuit Karl Kern, formulierte das übertragen einmal so: „Nichts ist friedensstiftender als der Blick auf einen gerade geborenen Menschen – und auch auf einen sterbenden Menschen.“ Dazwischen aber liegt ein ganzes Leben – und die Frage stellt sich: Wie kann dieser Augenblick des Friedens, der sich einstellt, wenn man auf neues Leben blickt – oder aber auch auf sterbendes Leben –, aufrechterhalten bleiben in der Zeit dazwischen?
Der Theologe Eugen Biser, der jetzt schon über 100 Jahre alt wäre, hat in diesem Zusammenhang eine Parabel des Philosophen Friedrich Nietzsche für das Christentum fruchtbar gemacht. Nietzsche hatte gesagt, dass jeder Mensch erst einmal ein Kamel wäre. Lastenträger für andere. Manipulierbar. Fremdbestimmt. In einer ersten Verwandlung mutiere das Kamel dann zu einem Löwen. Also zum Mann. Selbstständig, aggressiv, willens, Beute zu machen. Kräftig und stark. Die letzte Verwandlung des Menschen sei die Verwandlung zum Kind. Verspielt, verträumt, friedfertig. Eugen Biser hat als Sehnsuchtsort für den Christen die Gotteskindschaft definiert. Menschen im Zeichen des Glaubens vertrauten wie kleine Kinder ihre Sorgen und Nöte ihrem Gott an, der sich wiederum der Sorgen der Menschen annehme, wo die dafür einstünden, dass schon in dieser Welt mehr Frieden einkehre. Das berühmte Motiv des Sorgentausches zwischen Gott und dem Menschen also.
Eugen Biser: „Die herzbewegende Geschichte von der Geburt des Gottessohnes, für den sich in der Herberge kein Platz findet, wird uns nicht erzählt, um uns in einen Zustand der Ergriffenheit zu versetzen. Der Gott, der sich im Mysterium der Weihnacht enthüllt, will ganz der unsere sein. Nicht auf den Höhen, sondern in den Niederungen und Erbärmlichkeiten unseres Daseins sucht er uns auf. Es gibt keinen Winkel menschlicher Verlorenheit mehr, wo er nicht bei uns wäre. Die Hefe im Becher des Daseins hat er durch seine Gegenwart geweiht. In den düsteren Hohlräumen unserer Existenz, in denen sonst nur die Angst hauste, ist er uns nah. Dadurch hat sich alles von Grund auf gewandelt. Unsere Gotteskindschaft ist das Stichwort, in dem wir, was an Weihnachten mit uns geschah, begreifen dürfen.“
Das Motiv des Kind-Seins also wird in solchem Denken als Grundmotiv unseres ganzen Lebens gesetzt. Hinter jeder Handlung unseres Erwachsenen-Lebens schimmert so das Kind-Sein als Hoffnungsgrund einer lebenslangen Dynamik, die immer wieder den Blick auf diesen Urgrund unseres Lebens richtet, durch. Und das ist zugleich das Friedensmotiv, auf das dieses Kind-Sein, besser Immer-wieder-neu-Kind-Werden zurückverweist.
Der alttestamentarischen Gerechtigkeit, die auch schon eine Relativierung von Gewalt bedeutete, setzt Weihnachten noch eine weitergehende Möglichkeit von Leben und Gerechtigkeit entgegen, nämlich ein radikales Friedens- und Liebesgeschehen: „Die Gerechtigkeit Gottes ist nachgehende Liebe. Gott macht das sehr zart und beginnt ganz klein, mit einem Kind, geboren von einer Jungfrau. Er erweist sich als zartfühlender und leidenschaftlich liebender Gott. Seine Gerechtigkeit ist unbegrenzt, weil sie sein Wesen ist. Im Grunde ist Gerechtigkeit biblisch nichts anderes als Barmherzigkeit, Zärtlichkeit, entschiedene Liebe, selbst für den Feind.“ (Karl Kern)
Klar ist aber auch, dass solche Friedfertigkeit kein Nachgeben im billigen Sinn ist. Es bedeutet schlicht, seinen Mann zu stehen, einzustehen für sich und den anderen, aber ohne zurückzuschlagen. Aufstehen, aber nicht zuschlagen.
Auch das andere Motiv des Weihnachtsgeschehens deutet in unsere Zeit. Die Armut im Stall von Bethlehem. Der Verweis auf das wirklich Wichtige im Leben. Die reine Beziehung zum anderen. Die Wert- und Bedeutungslosigkeit von vielem, was uns in unserem Alltag so bekümmert. Freiheit von lästigen Eitelkeiten, überstarkem Karrieredruck, materiellem Überüberfluss, also Rückruf in unser Selbst, das in der Außenwelt der Dinge so leicht zu kurz kommt. In diesem Sinn hineinhören in uns selbst und hinterfragen die Fassaden der ablenkenden Glitzerwelten der Postmoderne, in der wir heute leben. „Christsein heißt, aus dem Wunder einer geheimnisvollen Verwandlung leben.“ (Karl Kern)
Und unser Mann, der den Bürgermeister nicht totschlug? Er war alleine noch übrig von seiner Familie. Selbst den Vater hatten sie in Buchenwald noch getötet. Alleine wanderte er aus nach Amerika und wurde Schneider in New York. Sein Name war von nun an nicht mehr Max Grünfeld, sondern Mike Greenfield.
Aber in der Geschichte, die die dritten Programme in diesem Frühjahr ausstrahlten, sieht man ihn im Kreis seiner eigenen neuen Familie. Seiner Frau, seiner vielen Kinder, Enkel und Urenkel. Er wurde glücklich. Trotz allem. Für den einen Augenblick, da er sich der Gewalt enthielt, wurde er also reich beschenkt. In dem Augenblick, da er entschied, wort- und fassungslos, dass er unverrichteter Dinge das Haus des Bürgermeisters von Buchenwald verlassen würde, traf er eine Entscheidung nicht nur über den anderen, sondern vor allem auch über sich selbst. Wer er in Zukunft in seinem Leben sein würde. Und beruflich? Er war mehr als begabt und so kamen sie also alle zu ihm, die Künstler, die Schauspieler und auch die amerikanischen Präsidenten, von Dwight D. Eisenhower bis Barack Obama.
Und weil er so nicht der Mann war, der den Bürgermeister erschlug, sondern der, der für die amerikanischen Präsidenten die Anzüge nach Maß schneiderte, hieß diese Reportage der dritten Programme so wunderbar: „Der Schneider der Präsidenten.“ Das ist auch eine Weihnachtsgeschichte – und dass sie auch noch wahr ist, macht sie noch schöner.
Straubinger Tagblatt vom 19. Dezember 2020