Buchbesprechung: Wer bin ich wirklich? Der Theologe Erwin Möde deutet Johannes den Täufer als eine Person auf der Suche nach ihrer Identität

Vor wenigen Tagen sprach der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering in der Sendung von Markus Lanz über sein nahendes Lebensende. Müntefering war früher ein recht unangenehmer Vertreter der Spezies Politiker. Beißend aggressiv, aber immerhin loyal bis zur Selbstverleugnung. Heute ist er ein liebenswerter alter Mann, der sich freut, nochmals eine tiefe Liebe gefunden zu haben und der gerne über das Leben nachdenkt. Ein freundlicher alter Herr, den man mögen muss. Der Tod habe deshalb keinen Schrecken für ihn, so sagt er zu Markus Lanz, weil da dann ja „nichts mehr“ sei und vor dem Nichts habe er nun wirklich keine Angst. Vor dem Sterben ja, aber nicht vor dem Tod.

Dem guten Mann sei seine Naivität gegönnt, allerdings muss als Fußnote dann doch vermerkt werden, dass die meisten Menschen gerade Angst vor dem Nichts haben! Auf der anderen Seite: Der große Kindergeburtstag seiner Auferstehung wird für diesen Franz Müntefering ja dann besonders schön und aufregend, da er doch buchstäblich nichts mehr für sich erwartet und so also eine ganz große Überraschung erleben wird. Er bewundere die, so sagt er, die glauben könnten, bei ihm sei das halt nicht so.

Für einen gläubigen Menschen allerdings hat der Glauben auch schon auf dieser Welt einiges zu bieten. Nicht nur in einem psychischen Sinn, weil er Hoffnung in sich trägt, sondern auch in einem geistigen Sinn, weil er diese Welt im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte verstehen lernen kann. Es ist ja nicht so, dass mit Jesus Gottes Sohn einmalig in die Welt getreten wäre – und weder vorher noch nachher hätte es keine Spur von Gott in dieser Welt gegeben. Und die Glaubensfrage würde sich dann darauf reduzieren, ob man glaube, dass Jesus Gottes Sohn sei und am Ende seiner Tage wirklich auferstanden ist. Nein, Christ zu sein bedeutet, zu verstehen, dass von Moses über die Propheten bis hin zu Jesus Heilsgeschichte über Jahrtausende ihren spannenden Verlauf genommen hat – und sich bis heute als Heilsgeschichte in dieser Welt begreifen lässt. Und da wird dann auch jede Figur und Erzählung des Alten Testaments spannend und bedeutungsvoll. Jede dieser Gestalten im Alten und Neuen Testament ist historisch ernst zu nehmen und hat im christlichen Heilskosmos ihre unverlierbare und notwendige Bedeutung.

Von diesem Aspekt des Christentums her hat der Psychotherapeut und Theologe Erwin Möde jetzt die Figur von Johannes dem Täufer untersucht. Wer war dieser Johannes? Welche Rolle spielt er für die Geschichte des Christentums? Wie ging es ihm als Mensch damals wirklich? Das Interessante an Mödes Erzählen ist, dass er es als Psychotherapeut versteht, gerade auch die Figuren des Alten Testaments heute lebendig werden zu lassen. Und sie in ihrer Zeit so spannend begreifbar zu machen, dass wir sie buchstäblich vor uns stehen sehen. Über Johannes den Täufer wissen wir ja eigentlich nur aus der Taufszene mit Jesus Bescheid. Jesus wird bei dieser Taufe am Jordan eben von Gott her als sein Sohn angesprochen und erfährt von Gott her seine göttliche Identität. Johannes steht als Täufer daneben und ist gleichsam nur eine Randfigur des um Jesus als Christus zentrierten Geschehens.

Entgrenzendes Begehren

Erwin Möde versteht aber, dass der Täufer eben auch selber Mensch und Person war, begreift ihn als wichtig und für Jesus zudem unbedingt wichtig – wie vor ihm Moses oder andere Propheten. Johannes der Täufer ist auch einer, der von Gott gesandt und als solcher ein Fragender und Suchender ist. Er findet seine Identität genau darin, dass er es ist, der Jesus als Gottes Sohn erkennt und erlebt. Darum aber ist auch er unbedingt notwendig für die christliche Heilsgeschichte. Und so ist seine Identität an die Frage und auch den Zweifel gebunden, ob ihm mit Jesus wirklich Gottes Sohn gegenübergestanden ist. Eine lebenslange Identitätskrise, wie sie dann für den modernen Menschen heute noch fühlbar ist. Und so fragt Johannes – wie Jesus selbst – immer wieder danach: Wer bin ich wirklich? Und damit wird er spürbar ein Mensch, der selber ins Zentrum des Interesses des Lesers rückt und gerade durch die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens aus einer Randperspektive des Evangeliums zu einer eigenständigen Hauptfigur wird.

Erwin Möde erzählt von Johannes als einer Parallelfigur zu Jesus. Beide sind wie Brüder, die am Ende auch beide durch das Schwert und das Kreuz sterben. Beide fragen immer wieder in der Tiefe ihrer Seele verunsichert danach, wer sie selbst wirklich sind. Und doch ist am Ende der Eine Gottes Sohn – und der Andere (nur) genau der, der ihn als Gottes Sohn erkennt und darin seine wahre Identität erfährt.

Dieser historische Kontext ist die eine spannende Seite des Buchs, die äußerst lebhaft und anschaulich erzählt wird. Die andere Seite ist Mödes psychoanalytische Lesart der Figuren des Alten und Neuen Testaments, die die Brücke zu unserer Gegenwart und ihren Fragen schlägt. So zeigt Möde, dass eine rein asketische Lebensweise, wie sie Johannes dem Täufer immer unterstellt wurde, wesentliche Teile des Menschseins unterschlägt. Denn „zu allen Menschen, die nach Adam und Eva in die Konflikt-Welten geboren werden, gehört das entgrenzende Begehren: seine Lust und Gier, seine (Hinter-)List und sein bisweilen wahnsinniger Selbstbezug. Ohne Trieb und Begehren wäre der reale Mensch nicht. Sie gehören naturgemäß dazu … Dass jeder Mensch als Geistseele und leiblich-psychisches Begehren zu einer niemals bruchlosen, aber entwicklungsfähigen Einheit gefügt ist, davon erzählen die biblischen Texte“. Und so wird in diesem Buch auch Johannes der Täufer für den Leser erfahrbar als ein „mit Leib, Seele und im Geist engagiert Mensch“.

Von diesem Aspekt der Heiligen Schrift her diskutiert Erwin Möde am Ende dann auch die Grundfragen, die uns gerade heute beschäftigen: Was ist wahre Gerechtigkeit? Wie gelingt es uns Menschen, den rechten Augenblick für Entscheidungen (Kairos) nicht zu versäumen? Wie verändert unsere moderne Medienwelt unsere Fähigkeit, Wirklichkeit zu erfahren und zu erleben statt sie durch fiktionale Fantasien zu ersetzen? Das neue Buch von Erwin Möde ist gut geschrieben, gut zu verstehen und am Ende für das eigene Leben äußerst inspirierend!

Erwin Möde: Heuschrecken und wilder Honig. Johannes der Täufer – eine tragische Heilsgeschichte. Friedrich Pustet Verlag 2024, 188 Seiten, 22 Euro.

Straubinger Tagblatt vom 1. Juni 2024