An der Wirklichkeit vorbei – Energiekrise, Bürgergeld, der Krieg in der Ukraine: Grüne, Union und SPD ringen um glaubwürdige Positionen. Dass ihnen das so schwer fällt, hat auch mit ihrer Identität zu tun

Drei Beispiele. Vor wenigen Wochen referierte der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, vor 40 UnternehmerInnen aus ganz Bayern. Auf die Frage, wie denn politische und gesellschaftliche Veränderungen in die Zukunft hinein zu erreichen seien, antwortet er resigniert: von der Politik am allerwenigsten. Die Lösungen der Parteien hätten häufig eine Halbwertszeit, die am besten nur bis zu den nächsten Wahlen reichten. Langfristige Konzepte seien dort eher die Ausnahme.

Das zweite Beispiel: Sitzung des Wirtschaftsbeirats Bayern in München vor wenigen Tagen. Ein Begleitgremium für die bayerische Politik mit Spitzenkräften aus der Wirtschaft. Es referiert der Vorstandsvorsitzende von Wacker-Chemie aus Burghausen, Christian Hartel. Er zeigt auf, dass die großen Chemie-Firmen in Deutschland längst energieeffizient arbeiten, sodass es dort kaum Einsparmöglichkeiten gebe. Von BASF bis Wacker: Wenn es nicht genügend Energie gibt, können die Produkte, die die Medizin oder die Industrie brauchen, nicht mehr ausreichend produziert werden. Da geht es nicht nur abstrakt um den Industriestandort Deutschland, sondern ganz konkret um Arbeitsplätze und auch dringend notwendige Produkte.

In der Diskussion mit den Fachleuten danach wird schnell klar: Der politische Kompromiss der Regierung, drei Kernkraftwerke noch bis ins Frühjahr etwas länger laufen zu lassen, gehe an allen Realitäten vorbei. Die Umstellung auf erneuerbare Energien sei zwar notwendig und richtig, dauere aber mitsamt den notwendigen Erprobungsphasen noch rund zehn Jahre. Wer heute ein Windrad beschließt, hat – verkürzt formuliert – den Ausstieg aus den tradierten Energieformaten noch lange nicht in der Tasche.

Beispiel Nummer drei: Es referiert der Kultursoziologe und Germanist Jürgen Wertheimer über Europa. Anhand von Texten ukrainischer Autoren über Hunderte von Jahren kann er zeigen, wie sehr Russland und die Ukraine in ihrer Geschichte in einer „toxisch-intimen“ Beziehung, wie er es benennt, miteinander verflochten sind.

Sein Fazit: Es gibt keinen Sinn, die Ukraine in ein Europa herüberzuholen, das einen ganz anderen Kulturkreis abbilde. Schon heute seien die Sonntagsreden von PolitikerInnen, die ein einiges und einheitliches Europa beschwören würden, blanker Unsinn. Die Geschichte von Polen oder Estland sei eine ganz andere als die von Frankreich oder Deutschland. Der Versuch, diese Differenzen anzugleichen oder gar auszublenden, gehe an der Wirklichkeit vorbei. Europa sei schon heute ein „asymmetrisches“ Gebilde; nur wer diese Asymmetrie anerkenne und nicht künstliche und starre Strukturen aufbaue, fände einen adäquaten Zugang zur Realität. Alle drei Beispiele zeigen so eindrücklich, wie sehr Politik heute zum Teil auch an der Wirklichkeit vorbeigeht und vorbeiredet. Dafür allerdings gibt es wiederum gute Gründe, die – wenn man sie genauer betrachtet – sogar nachvollziehbar sind und die zutiefst mit der Identität der Parteien in diesem Land zu tun haben.

Die Grünen: Zwei Wurzeln waren es traditionell, aus denen sich die Identität dieser Partei speiste. Die eine: Der Pazifismus, wie er sich damals in den frühen 1980er-Jahren als Reaktion auf das Prinzip der nuklearen Abschreckung entwickelte. Eine Gegenbewegung zur Nachrüstung, wie sie sowohl von Bundeskanzler Helmut Schmidt und dann daran anschließend von Helmut Kohl unterstützt wurde. Eine Welt, die sich auf das Szenarium einer atomaren Katastrophe als Abschreckung stützte, erschien ihnen als zynisch. Dagegen stand man auf.

Die zweite Wurzel: die sich abzeichnende Klimakatastrophe. Eine bessere Welt sollte werden, das war in den 80er- und 90er-Jahren der sogenannte Markenkern der Partei.

Und heute? Die Friedenspolitik ist Geschichte. Während in den Umfragen jede Woche mehr Bürgerinnen und Bürger die Waffenlieferungen an die Ukraine als zu umfangreich bezeichnen, bleibt die Partei auf ihrem entschiedenen Kurs. Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem großen Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ vor wenigen Wochen den entscheidenden Hinweis gegeben, dass der moralische Ansatz der Partei hier in eine Art Über-Moral gekippt sei, die einen größeren Kontext ihres Handelns nicht mehr wahrnehmen könne oder wolle. Und die zweite Wurzel?

Heute ist es gemeinsames Wissen aller Parteien, dass die Welt durch den Klimawandel an einem Abgrund steht. Ein „unique selling point“, wie die Werbewirtschaft das nennt, also ein Alleinstellungsmerkmal ist das lange nicht mehr.

Aber damit die eigene Wählerschaft nicht verprellt wird, darf jetzt eben nicht zugegeben werden, dass der vorfristige gleichzeitige Ausstieg aus Kernkraft und Kohle gar nicht machbar ist. Und so wird mit Blick auf die eigene Wählerschaft auf Parteitagen entschieden, dass auch die Ausnahmesituation dieser Tage keine wirkliche Unterbrechung der langfristigen Strategie bedeuten darf. Das geht zwar an der Wirklichkeit vorbei, ist parteipolitisch jedoch nachvollziehbar.

Wo aber das Identitätsgerüst einer Partei so ins Wanken gerät, stellt sich schon die Frage, ob ihre Akzeptanz bei den Wählerinnen und Wählern auf Dauer so hoch bleibt, wie sie es heute immer noch ist. Im Moment lebt die Partei von den Sympathiewerten der Menschen für Robert Habeck und Annalena Baerbock, die als aufrichtig und mutig erlebt werden. Aber können Personen auf Dauer Inhalte ersetzen?

Die Union: Unendlich oft wurde in allen Zeitungen geschrieben, wie sehr Angela Merkel in fast 20 Jahren die Partei inhaltlich entkernt hat. Aber darüber hinaus: Wie viele bürgerliche Familien gibt es denn in einer immer schneller werdenden digitalisierten Welt noch, die am Sonntag brav in die Kirche gehen, an das Gute im Menschen glauben und alle vier Jahre ihr Kreuz bei der CDU machen ? Den immer wieder neu geschriebenen Programmen der Partei liegt das christliche Menschenbild zugrunde. Aber wer weiß heute schon noch, was das christliche Menschenbild ist?

Die Versuche aber, sich neu zu definieren und schlagkräftige, scheinbar zeitgemäße Angebote an die WählerInnen zu machen – oft mit neuen Parteiprogrammen, manchmal auch mit billigen Parolen – zeigen die Schwierigkeit, Identität gleichsam künstlich aufzubauen, wo die ursprüngliche Originalität der eigenen Marke nicht mehr trägt.

Kommt hinzu: Ein mehr als problematischer neuer Vorsitzender der Partei, der fast 20 Jahre nicht mehr im politischen Geschäft war und jetzt mit hoher Aggressivität die politische Bühne bespielt. Die Umfragen sprechen zwar im Augenblick für Friedrich Merz und seinen Stil. Aber ob das auf Dauer reicht?

In seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch „Tacheles“ schreibt der Historiker Michael Wolffsohn, dass sich die Geschichte der SPD im Letzten erledigt habe. Die Wählerschaft der SPD sei traditionell die Arbeiterschaft. In der heutigen Welt gebe es dieses Milieu aber kaum mehr – und so sei auch die SPD im Letzten heute überflüssig. So einfach, so kurz – und am Ende auch so falsch?

Auf jeden Fall ist der Kampf um Identität hier nicht weniger mühsam als bei den anderen Parteien. Letztlich geht es bei der Schaffung des sogenannten Bürgergeldes auch um den Abschied von dem verhassten Begriff „Hartz IV“, der die Partei seit Jahren zerreißt. Politisch damals notwendig, in der Durchführung schlampig und einseitig, am Ende ein fast selbstmörderisches Unternehmen für die SPD.

Das vom Begriff her zu korrigieren und die eigene Wählerklientel, die hier verborgen ist, neu zu bespielen, ist nachvollziehbar – und mit Blick auf die steigenden Lebenshaltungskosten auch politisch richtig. Wer genau hinsieht und hinhört, der wird auch bemerken, dass die SPD die Friedenspolitik, die sie seit den 70er-Jahren betreibt, längst nicht aufgegeben hat – von Mützenich bis Scholz.

Bei aller Problematik: Im Kampf um die Rechte der sogenannten „kleinen Leute“ und im Insistieren auf diplomatischen Lösungen, die Kriege beenden statt sie mit immer mehr Waffen zu verlängern, liegen für die SPD Identitätsreserven, die in ihrem Wert kaum zu unterschätzen sind. Und personell ? Kanzler Olaf Scholz wirkt zwar oft weniger wie ein Kanzler, sondern eher wie ein Handelsreisender aus einem amerikanischen Drama mit sozialem Sprengstoff. Aber es ist fast schon eine Leistung bei dem Scholz-Bashing, das es seit Wochen gibt und das von den Medien mit Lust befeuert wird, so stabile Umfragewerte zu behalten.

Straubinger Tagblatt vom 12. November 2022