Das zweite Gesicht von Wolodymyr Selenskyj – Eine Annäherung an den Ukrainer, in dem viele nur einen europäischen Helden sehen wollen

Immer wenn zwei Dinge gleichzeitig oder in ganz kurzer Abfolge passieren, die uns buchstäblich schicksalhaft ins Auge fallen, dann müssen wir aufmerksam sein. So lehrt es die Schicksalspsychologie, wie sie prominent von der bekannten Schicksalspsychologin Johanna Danis vertreten wurde.

Beispiel: Wenn ein Mann gleichzeitig die Arbeit verliert und seine Frau ihn verlässt, dann ist das in der Perspektive der Schicksalspsychologie kein Zufall mehr, sondern eben Schicksal. Und es gilt dann zu überlegen, was das bedeutet, was solche Gleichzeitigkeit von zwei schicksalhaften Ereignissen dem Betroffenen mitteilen will.

Beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj waren es zwei Dinge in ganz kurzer Zeit, die stutzig machten. Das Erste: Schon als lange klar war, dass der Raketeneinschlag auf polnischem Boden ein Querschläger der ukrainischen Abwehr war und kein russischer Angriff, behauptete der Präsident weiter in aller Entschiedenheit das Gegenteil. Ein Zweites: Plötzlich geht der ukrainische Präsident polemisch und unsachlich auf den Bürgermeister der Hauptstadt Kiew, Vitali Klitschko, los, weil die Versorgung mit Elektrizität nicht ausreichend gewährleistet worden sei, obwohl er das doch angeordnet habe. Auch das verstörend. Zumal vor dem Hintergrund, dass Vitali Klitschko als politischer Hauptrivale von Selenskyj gilt. Die Kommentare in den Medien folgerichtig: Diese laute Kritik sei das Einläuten des Wahlkampfs im Jahr 2024. Und das also mitten im Krieg. Auch das macht stutzig.

„Aber Selenskyj dagegen ist ein Hysteriker“

Von vielen wird Selenskyj fast schon als Heiliger gefeiert. Der Mann, der heldenhaft Widerstand leistet. Dem jeden Tag der Tod droht. Der im Kampfanzug seine Ansprachen ins Netz stellt, während europäische Politiker im feinen Zwirn in Brüssel zu Abend essen. Der für die Freiheit Europas einsteht. Von den europäischen Politikern regelrecht zum Symbol für die Werte Europas ausgerufen. Aber stimmt das denn?

Auffallend ist, dass gerade Psychiater und Psychotherapeuten schon längst darauf hinweisen, dass sie in Selenskyj keineswegs die positive Figur sehen, als die er in aller Welt gedeutet wird. Ein bekannter Psychiater stellvertretend: „Putin ist ein Schizoider. Er hat keinen Bezug mehr zur Welt. Er tötet einen Menschen, der unmittelbar vor ihm steht, und fühlt nichts mehr. Aber Selenskyj dagegen ist ein Hysteriker. Er lebt nur noch von seiner und in seiner eigenen Mission. Handlungsalternativen werden nicht mehr geprüft. Auch er ist längst immun gegen das Leiden, das der Krieg gerade seinem Land und den Menschen dort einbringt.“

Könnte es also sein, dass die beiden kleinen Symptome – die Lüge bezüglich der ukrainischen Rakete und der unpassende Wahlkampfstart mitten im Krieg – einen echten Hinweis geben, wer der ukrainische Präsident wirklich ist? Um das zu beantworten, muss der Blick zurückgehen auf die Zeit vor dem 24. Februar, als Journalisten und Wissenschaftler noch einen realistischeren Blick auf Selenskyj warfen, ohne ihn zum Symbol für irgendetwas zu erklären.

Ein hilfreicher Aufsatz aus der Politikwissenschaft

Besonders hilfreich ist dabei ein Aufsatz von André Härtel, Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, unter dem Titel „Die Ukraine unter Präsident Selenskyj – Entwicklung hin zum ,populistischen Autoritarismus‘?“. Diesen Text hat Härtel nach gründlicher Recherche nur drei Wochen vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 4. Februar dieses Jahres publiziert. Das Bild von Selenskyj, das sich hieraus ergibt, ist im Unterschied zu seiner Heroisierung in den Medien heute äußerst ambivalent. Herausgearbeitet wird, dass Selenskyj zwar durchaus eine Reformagenda auf den Weg bringen wolle, aber bei der Durchsetzung dieser Agenda sich beileibe nicht an demokratische Spielregeln halte.

So wolle Selenskyj die „traditionellen Medien umgehen und sich eine selbst gesteuerte Öffentlichkeit schaffen“. Die Opposition in der Ukraine werfe dem Präsidenten vor, „die gefestigte direkte Kommunikation mit dem Wahlvolk nutzen“ zu wollen, um „den Pluralismus im Land einzuschränken und eine präsidentielle Machtvertikale zu etablieren“. Eine Vorverlegung der Parlamentswahlen 2019, die seiner Partei erwartbar einen großen Sieg beschert habe, sei nur durch „ein fragwürdiges und folgenreiches Zusammenwirken mit dem Verfassungsgericht möglich“ geworden. Der Präsident könne es zudem nur schwer akzeptieren, „auf vielfältigen Widerstand zu stoßen und sich mit seiner Agenda nicht wie erwartet durchsetzen zu können“, schreibt Härtel weiter. Deshalb bevorzuge er „Loyalität und Machtfülle für einen engen Personenkreis“.

Selenskyjs Personalpolitik, „wenn es um die Besetzung von Ministerien und Spitzenposten in weiteren Institutionen geht, die der Präsident unmittelbar oder mittelbar“ kontrolliere, sei der häufige „Austausch von Kadern, die teilweise nur wenige Monate im Amt bleiben“. Häufig wechsle der Präsident „auf einen Schlag einen Großteil des Spitzenpersonals sicherheitsrelevanter Institutionen aus. Ein Grund für die Personalrochaden ist der populistische Reflex, andere für das Ausbleiben schneller Resultate oder effektiver Strategien verantwortlich zu machen und auf diese Weise die eigene Reputation zu schützen.“

Genau hinschauen, mit wem man es zu tun hat

Der zunehmende Unmut über „Selenskyjs Missachtung des Parlaments“ speise sich daher, dass „unter Manipulation der Geschäftsordnung sehr schnell Gesetze“ zu beschließen seien, für die der Präsident werbe und die ihm genehm seien. Er suche nach Meinung der bestehenden Medien zudem „mehr Kontrolle über die Fernsehsender“ und nutze auch „seinen direkten Zugriff auf die Generalstaatsanwaltschaft, um Verfahrensabläufe in seinem Sinn zu beeinflussen“.

So weit – so schlimm! Ist das die Handlungsweise eines überzeugten Demokraten? Und passen am Ende nicht die zwei kleinen Symptome, die in den letzten Tagen einen kritischen Blick auf Selenskyj möglich machten, exakt in das Bild, das der Politikwissenschaftler zeichnet?

Fazit: Es muss schon darum gehen, bei Personen der Zeitgeschichte, die gerade auch für unser eigenes Land eine so wichtige Rolle spielen, wie es derzeit Selenskyj tut, nicht eigenen Projektionen aufzusitzen, sondern genau hinzuschauen, mit wem man es da wirklich zu tun hat. Es sind am Ende nicht Länder, die gegeneinander kämpfen, sondern Menschen. Und es sind Politiker, die die politische Agenda in großem Stil bestimmen und zum Krieg aufrufen oder sich für Friedenslösungen einsetzen. Europa allerdings ist nicht schon so schwach, dass es gemeinsame Halluzinationen braucht, um noch eine gemeinsame Zukunftsvision zu entwickeln!

Straubinger Tagblatt vom 3. Dezember 2022