Eigentlich wollte ich es nicht lesen – „Die vierte Gewalt“ von Philosoph Richard David Precht und Soziologe Harald Welzer geht mit den Medien in diesem Land kritisch um. Und ist, wenn auch anders erwartet, durchaus lesenswert

Dieses Buch wollte ich erst einmal wirklich gar nicht lesen! Ein so laut angekündigtes Sensationsereignis, das auch noch kritisch mit den Medien in diesem Land zu Werke geht wie „Die vierte Gewalt“, stößt doch erst einmal ab. Und das auch noch von den Autoren Richard David Precht und Harald Welzer.

Richard David Precht, breitbeiniger Fernsehphilosoph im Dauereinsatz für alle ernsten Dinge in dieser Welt – sicher ein Marketinggenie, aber muss man ihn wirklich lesen? Und hatte nicht der Soziologe Professor Harald Welzer gerade im Fernsehen eine so unglückliche Figur abgegeben, dass er aus gutem Grund auf den Medienseiten und in den Feuilletons der Zeitungen gnadenlos verrissen wurde? Aber die Zurufe aus dem akademischen Freundeskreis, dass dieses Buch lesenswert sei, wurden lauter – und ausschlaggebend war am Ende der eifersüchtige Widerspruch des kaum weniger geltungsbedürftigen Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen aus Tübingen, der vor zwei Wochen im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit aller verfügbarer Aggression auf die beiden Autoren losging. Das machte dann doch neugierig. Und um es vorwegzusagen: Dieses Buch ist durchaus lesenswert.

Es ist in recht weiten Teilen überraschend differenziert und es ist jenseits seiner pointierten Stellungnahme zur Medienwelt auch ein durchaus informativer und belesener Streifzug durch die Geschichte der Aufklärung mit der hier über Hunderte von Jahren entstehenden Kultur der Zeitungs- und Fernsehindustrie. Manchmal zwar etwas zu plakativ, aber am Ende ein Buch, das so selbst in guter Tradition der Aufklärung und des Rufs zur Mündigkeit des Bürgers steht. Worum geht es also?

Es geht eben nicht nur darum, dass die verstörend geschlossen-einheitliche Berichterstattung in den Leitmedien unserer Öffentlichkeit (öffentlich-rechtliches Fernsehen und die großen überregionalen Zeitungen) im Ukraine-Krieg, wo das Liefern von schweren Waffen fast ohne Ausnahme nicht nur begrüßt, sondern sogar eingefordert wurde, in Differenz steht zu den Bürgern des Landes. Denn hier ist das Bild exakt offen nach beiden Seiten: Zwei gleich große Gruppen von Befürwortern und Gegnern sind in allen Umfragen erkennbar. Es geht einen Schritt über diese Beobachtung hinaus darum: Weshalb ist das so? Weshalb gleicht Journalismus nicht nur beim Ukraine-Krieg seine Berichterstattung einer Einheitsperspektive an, die dann nicht mehr in Frage gestellt wird? Und darauf geben die beiden Autoren eine differenzierte Antwort, die mit dem Begriff der Differenziertheit selbst zu tun hat. Denn sie arbeiten als Erstes heraus, dass in schwierigen und komplexen Situationen Identifikation, Parteinahme und vereinfachende Lösungen gerade auch für Medien eine große Verführung darstellen.

Wo eigentlich gefordert wäre, die Komplexität von Problemen und Situationen exakt und sorgfältig zu durchleuchten, werden lieber einfache Antworten gegeben, die sich primär einer vereinfachenden Emotionalität und auch Rationalität verdanken. Eine „komplexe geopolitische Lage“ wird so „auf ein vergleichsweise niedrigkomplexes Niveau tiefer gelegt und in eine Geschichte gegossen, die durch folgende Eckpunkte festgelegt ist: Demokratie steht gegen Diktatur; der Diktator ist zu allem fähig; sein Expansionsdrang wird nach der Okkupation der Ukraine ungebremst weitergehen; eine militärische Aggression kann nur mit Stärke bekämpft werden; Verhandlungen haben zu nichts geführt und werden auch in Zukunft zu nichts führen; Kriegsverbrechen gehen ausschließlich auf die barbarische Natur des Aggressors zurück, nicht auch auf die Natur des Krieges.“ Damit aber würden prinzipiell vorschnelle Antworten gegeben und entscheidende Fragen gar nicht mehr gestellt.

Das gelte aber nicht nur beim Ukraine-Krieg, sondern – wie die Autoren zeigen – auch bei anderen großen gesellschaftlichen Krisen wie der Flüchtlingskrise 2015 oder der Corona-Krise der letzten Jahre. Journalismus suche gerade bei Krisen in hoher Geschwindigkeit vereinfachte Deutungsmuster, die dann breite Akzeptanz einfordern und sich einer weiteren Überprüfbarkeit entziehen würden. Überlegenswert!

Die Unsicherheit, die so nicht mehr zugelassen wird, finde einen zusätzlichen Gegenpart in der Tendenz von Medien, sich in schweren Krisen hinter die Argumentation von Regierungen und Politikern zu stellen. Argumentationsangebote der Politik würden so bereitwillig an- und übernommen. „Dass Leitmedien sich im Angesicht von Kriegen eng an die Regierungspolitik anschließen, ist auch in der Bundesrepublik kein Ausnahmefall, sondern die Regel.“ Damit aber ergibt sich ein riesiges Problem: Denn Politik und Medien, die eigentlich in einem produktiven Spannungsverhältnis zueinanderstehen sollten, verstärken sich gegenseitig bei der Zugfahrt auf einem Gleis, wo es so mit immer höherer Geschwindigkeit in dieselbe Richtung geht, ohne nochmals oder immer wieder darüber zu sprechen, ob die ganze Richtung der Reise noch stimmt.

Ein Zweites: Die, die so gemeinsam in einem Zug in dieselbe Richtung fahren, unterliegen nach Meinung von Precht und Welzer einem Gruppendruck. „Viele Journalisten leben mehr und mehr in ihrer eigenen Welt. Denn das, was der von ihnen konstruierten Realität als Korrektiv dient, ist vornehmlich die Realität ihrer Kollegen. Eine Überprüfung von außen, von einem Beobachter, der sie beobachtet, findet kaum statt und wird gemeinhin auch mit Vehemenz zurückgewiesen … Eine starke Homogenität in der Meinung braucht weder Anweisungen noch einen Druck „von oben“. Der Druck entsteht gerade in neuen und unübersichtlichen Situationen aus wechselseitiger Orientierung an den anderen, aus Angst vor Abweichung, aus Gruppendenken und aus Opportunismus.“

Wer die Talk-Shows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens verfolgt, der bemerkt schon, wie sehr abweichende Positionen marginalisiert und am Ende – oft kopfschüttelnd – ausgeschlossen werden. Wie oft war Gregor Gysi früher zu Gast bei Maybrit Illner oder Anne Will? Oder Alices Schwarzer; oder auch der kluge ehemalige Oberbürgermeister von Hamburg Klaus von Dohnanyi. Von den anderen Unterzeichnern des zum Frieden mahnenden Briefes im Ukraine-Krieg ganz zu schweigen. In fast jeder Sendung begegnet einem stattdessen der für den Springer-Konzern schreibende Robin Alexander oder die sonst immergleichen Figuren des „Spiegel“ der „faz“ oder auch der „taz“, die sich längst auf ein einheitliches Narrativ des Ukraine-Krieges geeinigt haben. Interessant wäre, ob die, die da den immergleichen Zirkus der Talk-Shows bedienen, noch den Funken einer Frage an sich selbst haben, ob sie vielleicht irren könnten. Aber Karl Popper, der bei jeder Antwort auf eine Frage die Möglichkeit des Irrens einräumte, fände in den Runden von Markus Lanz wohl kaum einen Platz.

Ein Drittes: Interessant ist auch, dass die Autoren aufzeigen, wie sehr die Mechanismen der digitalen Welt, die zu einer immer stärkeren Vereinfachung und Personalisierung von komplexen Themen geführt haben, längst auch auf die klassischen Leitmedien übergegriffen haben – bis hin zur Aggressivität des Tons, der angeschlagen wird. Während Jürgen Habermas die Diagnose, dass das „emanzipatorische Versprechen“ der Medien „von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen“ übertönt werde, in seinem interessanten gerade erschienenen kleinen Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ auf die Welt des Netzes beschränkt, weiten im Widerspruch dazu Precht und Welzer diese Diagnose auf die Welt des Fernsehens und der großen überregionalen Zeitungen aus. Auch das ist klug beobachtet. Wie schon beim Aufkommen des Privat-Fernsehens vor über 30 Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen zügig Anpassungsschritte vornahm, die nicht nur gut waren, so scheint das auch auf die Rückwirkungen des Netzes auf die von Precht und Welzer ins Auge gefassten Leitmedien in Print und Fernsehen zuzutreffen. Zwischen Schwarz und Weiß, wie es in den Leitmedien heute oft genug zelebriert werde, fehlten in diesen Tagen ausreichend „die Schattierungen von Grau“, die als sinnvolle Lösungsstrategien bei Problemen unabdingbar wären.

Das von Precht und Welzer vorgelegte Buch ist überraschend gut, differenziert und viel weniger populärphilosophisch, als man vom eigenen Vorurteil kommend meinen möchte. Es korrigiert ein Defizit des Diskurses in den sogenannten Leitmedien und steht deshalb nicht umsonst auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste. Das Verdikt des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen im „Spiegel“, dass die Leser hier auf „Konsensskandalisierung und Einseitigkeitsvorwürfe von Leuten hereinzufallen“ drohten, die „ihre eigene Agenda haben“, ist absurd. Immerhin zeigt ein solches Reden aber, dass der Konkurrenzkampf in der Welt der Wissenschaft heute so brutal und polemisch ausgefochten wird wie seit eh und je.

Straubinger Tagblatt vom 26. November 2022