Es gibt fast nichts Schöneres, als in einer feinen Schweizer Gesellschaft, zum Beispiel in Zürich, den Namen Jean Ziegler fallen zu lassen und am besten noch hinzuzufügen, wie sehr man ihn schätze. Die Reaktion der anderen Gäste bewegt sich dann in der Regel zwischen Unglauben und dem sichtbaren Wunsch, die Porzellanteller auf dem Tisch schnell leerzuräumen und auf den zu werfen, der solches von sich gibt. Jean Ziegler ist der notorische Ankläger seines Landes. Seit Jahrzehnten hält er seinen Landsleuten unerbittlich den Spiegel vor. Einen Buchtitel wie „Die Schweiz wäscht weißer“ muss man kaum lesen, um nicht schon zu wissen, was drinnen steht. Und als UN-Sonderbotschafter klopft er in Fernsehsendungen zudem immer mit dem Finger auf den Tisch und zählt so die Sekunden, in denen in Afrika schon wieder ein Kind an Hunger gestorben ist. Mehrfach in der Minute ist das. Sicher, die andere Seite von Jean Ziegler ist eine ganz gehörige Portion Narzissmus, er gefällt sich schon sehr in der Rolle des gealterten Revoluzzers, aber er gehört nun mal zur Schweiz wie die wunderbaren Berge oder der weltbekannte Käse, der dort gewonnen wird, mitsamt den Hustenbonbons, die so unverwechselbar beworben werden und an die man fast zwangsläufig denkt, sobald es im Hals kratzt.
Diese scheinbare Geschichtslosigkeit der Schweiz, die es so gut versteht, sich aus so vielem fein rauszuhalten, das haben ihr die Schriftsteller dort so gerne vorgehalten. Auch den Max Frisch hätten sie deshalb an manchen Tagen am liebsten aus seiner Heimat verbannt, so beißend war seine Kritik an seinem Heimatland, nicht weniger als Friedrich Dürrenmatt, der es in Deutschland immerhin genauso in die Schulbücher der Gymnasien gebracht hat. Offensichtlich erzeugt ein hohes Maß an Reichtum auch Gegenkräfte, die genauso stark und prägend sind.
Aber die andere Seite dominiert dann doch: Der Schweizer Joe Ackermann, der im Fernsehen so gewinnend die Aktien der Deutschen Bank empfahl, als sie noch über 60 Euro wert waren, hat es immerhin geschafft, nicht nur die eigene Bank zu ruinieren, in diesem Fall auch noch eine deutsche, sondern zudem das Geschäftsmodell mit den in Amerika beliehenen Immobilien auch hierzulande an die Börse zu bringen und sich so jeden soliden Sparkassenchef zum Feind zu machen. Heute genießt er seinen Ruhestand und hat wohl kaum ein Bewusstsein von all dem Schaden, den er angerichtet hat. Wer dann auch noch in St. Moritz über die berühmte Einkaufsmeile oben auf dem Berg über dem See bummelt, wo die hochpreisigen Marken der ganzen westlichen Welt versammelt sind, der bekommt schnell eine Ahnung, wo das Geld ist, das in Afrika oder Lateinamerika fehlt. Dass die korrupten FIFA-Bosse allesamt aus der Schweiz kommen, versteht sich und natürlich steht gerade in Zürich die Zentrale des weltweit korrupt gewordenen Fußballs. Fast schon eine Leistung allerdings ist es, dass auf den berüchtigten Sepp Blatter mit dem neuen FIFA-Boss Gianni Infantino ein noch undurchsichtigerer Geselle als Nachfolger ins Amt kam.
Aber die Schweiz hat auch eine andere Seite. In ihrer Selbst- und Geschichtsvergessenheit an manchen Orten gibt es dort Zeitungen, die so wenig aktuell sind, dass man auf das Titelblatt schauen muss, um sich zu vergewissern, was denn heute für ein Tag ist. Liest man so zum Beispiel die Basler Zeitung, so kommt man leicht ins Grübeln über der Frage, in welchem Jahrhundert man sich beim Lesen gerade bewegt. Das hat schon auch etwas Liebenswürdiges. Hier ist die berühmte Langsamkeit der Schweizer buchstäblich Gestalt geworden!
Und so nimmt es vor all diesem Hintergrund nicht wunder, dass auch die Ermittlungen rund um das deutsche Fußballmärchen 2006 jetzt zu verjähren drohen. Erschrocken fragt deshalb die Süddeutsche Zeitung vor wenigen Wochen: „Für ihre Sommermärchen-Ermittlungen nahm sich die Schweizer Justiz viel Zeit. So viel, dass jetzt wahrscheinlich die ganze Affäre verjährt. Ist das nur Inkompetenz – oder politisches Kalkül?“ Solches ist natürlich schwer vorstellbar in einem Land wie Deutschland, wo Kanzler ihren Ruf und den Ehrenvorsitz der Partei verlieren, weil sie illegal Parteispenden angenommen haben, oder wo amtierende Oberbürgermeister ganz früh am Morgen in der Tiefgarage mit Fesseln abgeführt werden, weil der Verdacht besteht, dass sie Wahlkampfspenden nicht so ganz sauber verbucht haben. Und jetzt das: Knapp sieben Millionen Euro sind irgendwie bei Franz Beckenbauer gelandet und mit einem gezielten weiten Pass in den freien Raum so verschwunden, dass sie nicht mehr auffindbar sind. Zurückgegeben wurden sie Jahre später von Funktionären des deutschen Fußballverbandes, aber das waren andere sieben Millionen und auch das war recht undurchsichtig. Das Geld aber, das in Beckenbauers weißer Weste so plötzlich unsichtbar wurde, es bleibt auf unerklärliche Weise verschwunden. Erklären kann man es eigentlich nur mit der Geschichte des besten Fußballers der Welt in seiner Zeit: Da gab es einmal ein Bundesligaspiel, es regnete stark und der Platz war völlig verdreckt. Die weißen Trikots und vor allem die Stutzen der Spieler waren nicht mehr als weiß erkennbar; der Einzige, bei dem es nicht so war, das war der Kaiser, obwohl er voller Einsatz mitgespielt hatte. Und auch die Zauberpässe über 50, 60 Meter, auch da ging es doch nie mit ganz rechten Dingen zu. Sinnbildlich für sein Zauberspiel blieb der Werbespot mit dem Kaiser, der einem bis in den Tod im Ohr klingen wird: „Ja, is denn scho wieder Weihnachten?“
Die Schweizer Justiz hat also recht getan. Sie hat nicht den Buchstaben des Gesetzes zuerst in den Vordergrund gestellt, weil das hier ganz falsch wäre. Sondern sie ist zwei Schritte zurückgetreten und hat versucht, dem Fall als Ganzes gerecht zu werden. Das braucht Zeit und das macht Freude. Nochmals dieses Leben anzuschauen, die Spiele, die Pässe, die Siege, die Frauen, die Erfolge, die vielen wunderbaren Stunden, die uns der Kaiser geschenkt hat. Die unendlich vielen Sätze in die Fernsehkameras der Welt, die immer auch so philosophisch waren, dass sie uns über Tage zum Denken brachten. Und da hat die Schweizer Justiz schlicht die Zeit vergessen, so wie wir auch, wenn wir ein spannendes Fußballspiel anschauen und alles vergessen, was um uns herum geschieht.
Und ich muss sagen: Mich freut das. Dass in einer Welt, wo so viel echtes Unrecht geschieht und so viel Recht gesprochen wird, aber es hilft am Ende doch so wenig, über dem Kaiser wieder einmal die Sonne scheint. Und vielleicht hat die Schweizer Justiz ja doch bemerkt, dass dem Kaiser ein geliebter Sohn gestorben ist und dass sein Herz tatsächlich nicht mehr so schlägt, wie es sollte. Und vielleicht gehört das ja auch zu einer menschlichen Gesellschaft, dass selbst die Justiz so etwas nicht übersieht. Für einen deutschen Staatsanwalt aber ist das schwer vorstellbar, um es vorsichtig auszudrücken. In der Schweiz aber ticken die Uhren doch anders.
Straubinger Tagblatt vom 15. Februar 2020