Es war kurz vor dem Machtwechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder. Joschka Fischer ist zu Gast in einer Talkshow und wird gefragt, ob er wirklich glaube, dass das rot-grüne Bündnis die Bundestagswahl 1998 gewinnen könne. Fischer blickt nachdenklich in die Kamera und antwortet: „Nochmals vier Jahre Helmut Kohl, können Sie sich das vorstellen?“ Tatsächlich, es war kaum mehr vorstellbar. Helmut Kohl meinte zwar, er sei wie ein altes Schlachtross, das, sobald es die Marschmusik höre, nochmals erfolgreich kämpfen könne, aber die Wähler sahen es doch anders. Kohl stand bei seinen Wahlkampfauftritten oft genug einsam und verloren auf den Marktplätzen der Republik – und Schröder gewann mit Fischer die Wahl. Er genoss den Triumph in jeder Weise und machte zwei Jahre – nichts!
Zum Regieren brauche er nur „Bild, Bams und die Glotze“ verkündete er sogar lauthals. In „Wetten, dass..?“ mit Thomas Gottschalk zelebrierte er sich selbst, nach der Sendung rauchte er Zigarre, die Maßanzüge, die er sich jetzt schneidern ließ, trug er lustvoll zur Schau. Als er dann doch endlich mit deutlicher Verspätung im Amt ankam, war es fast schon zu spät. Die nächste Wahl stand vor der Tür und die Menschen hatten genug von Schröder und Fischer.
Der große Regen als Gottesgeschenk
Aber es kam wie ein Gottesgeschenk für die Regierung kurz vor der nächsten Bundestagswahl der große Regen im Norden Deutschlands. Schröder lief in Gummistiefeln tatendurstig durch die überfluteten Gegenden und sprach werbewirksam den Menschen Mut zu. Ein Manager in der Katastrophe. Als der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber begriff, dass dort oben im Norden gerade das Fell des Bären verteilt wurde, und endlich auch seine Gummistiefel aus dem heimischen Keller holte, war die Wahl fast schon verloren. Ein zweites von Stoiber verhaspeltes Fernsehduell – und die eigentlich schon verlorene Wahl kippte zu Schröders Gunsten.
Der war zwar ein Sieger und ein Mann, was er so gerne zeigte, aber die Kassen waren doch leer. Mit dem Triumph bei der Wahl 2002 hatte er schon gar nicht mehr gerechnet. Was also tun? Jetzt half nur noch die Flucht nach vorne. Hartz IV war das Zauberwort, das den Staatsbankrott verhindern sollte, aber die SPD spaltete und Schröder am Ende das Amt kostete. Und doch urteilt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter aus Passau: Schröder war erfolgreich, denn noch einmal führt er die SPD als Juniorpartner in die Regierung. Noch einmal ein Auftritt im Fernsehen als Hyper-Macho, den er sich besser erspart hätte – und schon ist sie da, die lange Zeit mit Angela Merkel.
Das Land atmet auf. Nüchtern wirkt Merkel, fleißig und bescheiden. Gerade mit Blick auf die Ära von Schröder wird das als entlastend empfunden. Und Merkel weiß das zu nutzen. Seriosität, hohe Belastbarkeit und vor allem Freiheit von jeder Form von Eitelkeit sind die Trümpfe, die sie ausspielt und die sie Wahlen gewinnen lassen. Erst später wird klar, dass das, was sie einen Weg in der gesellschaftlichen Mitte nennt, auch ein Weg der Mittelmäßigkeit ist.
Wichtige Themen werden verschlafen, Merkel fährt jeden einzelnen Tag mit Blick auf die Wahlurnen auf Sicht. Ändert den Kurs, wenn sie spürt, dass das bei den Menschen gut ankommt und also notwendig scheint. Sie gehört plötzlich zu Deutschland wie früher Breschnew zur Sowjetunion oder Papst Johannes Paul II. über gefühlte Jahrhunderte zur Kirche. Man kann sich in dieser Zeit ein Szenarium ohne sie schwer vorstellen, weil die Macht der Gewohnheit alles zudeckt, was es dann doch zu diskutieren gegolten hätte.
Das nutzt sie ganz bewusst über die Jahre und über die Jahrzehnte. Die „bleierne Zeit“ der Kanzlerschaft Angela Merkels, wie das heute gerne genannt wird. Als sie selber spürt, dass es nicht mehr geht, gibt sie erst den Parteivorsitz ab, um die Kanzlerschaft in Ruhe zu Ende zu bringen. Beide Kandidaten aber, die sie in Ämter lanciert, scheitern. Kramp-Karrenbauer als Parteivorsitzende und der schwache Kanzlerkandidat aus Nordrhein-Westfalen an den Wahlurnen.
Etwas zurückgenommen Scholz, zentral Habeck
Das Licht des Wahlsiegers fällt auf einen, mit dem kaum einer gerechnet hat. Olaf Scholz hatte es gesagt: „Ich trete an und ich will gewinnen.“ Ernst genommen hatte das niemand, aber am Ende reichen ein paar kleine Prozentpunkte für eine Regierung, mit der keiner gerechnet hatte. Und die Hoffnung auf neues politisches Leben in Deutschland ist groß. Die Bilder werden Teil des kollektiven politischen Gedächtnisses der Republik: Die Spitzen von FDP und Grünen machen ein glückliches Selfie ohne den Kanzler und wenig später marschiert die neue Koalition auf die Kameras zu in der vollen Breite des neuen Kabinetts. Etwas zurückgenommen der Kanzler, zentral Robert Habeck, der für den geübten Betrachter des Fotos die Mitte des Bildes bestimmt.
Und so kam es dann auch: Der Kanzler versteht sich als vorsichtiger, zurückhaltender Moderator der Regierung. Das Bild bestimmt Robert Habeck. Erst einmal positiv: Als dem Land buchstäblich die Luft zum Atmen auszugehen droht, reist Habeck um die Welt und besorgt Energie in aller Herren Länder. Unaufgeregt im Ton, verlässlich in der Sache, offensichtlich Prototyp eines neuen Typus von Politiker. Und Scholz agiert umsichtig. Am Krieg gegen Russland will er nicht wirklich teilnehmen, sein lautes Schweigen hat eine Botschaft, die viele Menschen verstehen und sogar schätzen. Und die FDP-Minister in ihrer versammelten Farblosigkeit stören das große Bild nicht wirklich. Dass sie nicht allzu viel beizutragen haben, fällt kaum auf.
Und heute? Das Schweigen von Olaf Scholz ist unerträglich geworden. Die Kassen sind leer, die Probleme unendlich groß. Wie sollen die gelöst werden? Alter, Krankheit, Pflege, Flüchtlinge. Wie soll das gehen? Wer soll das wie bezahlen? Kann man das mit Schweigen lösen? Waffen in die Ukraine, Wiederaufbauprojekte für die Ukraine nach dem Krieg, Unterstützung für die Flüchtlinge, alles schön und gut – wenigstens in einer ideal gedachten Welt! Die Realität: die AfD bei knapp 20 Prozent! Tendenz steigend. Die Städte und Kommunen ächzen unter der Last, die sie nicht mehr tragen können. Das ist die Wirklichkeit.
Die Anforderungen sind hoch, zu hoch!
Robert Habeck ist fleißig wie eh und je – aber: in vier Jahren die Schäden aus 200 Jahren Industrialisierung zurückzudrehen – wie soll das gehen? Wer will das glauben? Und die Menschen, die heute jeden Euro umdrehen, um den Alltag zu bestehen. Wo soll das Geld herkommen, mit dem sie ihre Häuser renovieren sollen? Vom Staat, der das Geld nicht hat? Jetzt ist also das eigene kleine Häuschen nicht mehr sicher, das ist die Botschaft, die bei vielen ankommt. Und sie ist noch nicht einmal ganz falsch, so sehr sich die Regierung auch müht zu heilen und zu helfen! Denn die Anforderungen der Regierung an sich selbst und die Bürger sind hoch, zu hoch! Das kann man nicht schaffen. Das ist, als wollte ein schlecht trainierter Läufer plötzlich den Marathon bestreiten und auch noch gewinnen. Anstatt mit vielen kleinen Schritten an sich zu arbeiten, um so am Ende doch einen großen Schritt zu tun.
Und die FDP? Hat weiter ihr strukturelles Problem: Ihre Geschichte ist die Geschichte der Freiheitsrechte im 19. Jahrhundert. Gegen den Adel, für ein Bürgertum, das frei sein und vor allem auch frei wirtschaften will. Das alles ist erreicht! Die Freiheit der Wirtschaft braucht aber in diesen Tagen eher sozialen Ausgleich und nicht die allzu radikalen Kräfte des Marktes. Hier wirkt die FDP heute hemmend. Freiheit bedeutet für Lindner und die Seinen kein Tempolimit für Porschefahrer und Schutz des Geldadels, der den ungehinderten Marktkräften seine herausgehobene Position verdankt. Bemessungsgrenzen bei Krankheit oder Pflege sollen auch für die, die mehr tragen könnten, nicht verändert werden und Steuern auch für die Reichen nicht erhöht werden.
Zu schwach, um einen Neuanfang zu wagen.
Weil das aber keine fünf Prozent der Gesellschaft sind, steht die FDP im ständigen Profilierungszwang, der längst unerträglich geworden ist. Und das Geld, das die ganz Reichen haben, ist am Ende doch das Geld, das in der Mitte der Gesellschaft und am unteren Ende fehlt! Die Union als Hoffnungsträger? Knapp 30 Prozent bleiben es, die im Augenblick bei der nächsten Bundestagswahl CDU/CSU wählen wollen – und das werden auch nicht mehr. Jedenfalls nicht mit Friedrich Merz an der Spitze, der am Ende für viele doch verbrannt ist. Hendrik Wüst – wieder aus Nordrhein-Westfalen – ist der Kandidat, dem manche es zutrauen. Er sei zu nett, ist der Einwand, der gerne vorgebracht wird. Ein netter Junge von nebenan, spricht das wirklich gegen ihn?
Noch zwei Jahre Rot-Grün-Gelb. Heute schwer vorstellbar. Aber auch schwer vorstellbar, dass es schnell zu Ende geht. Zu schwach sind die drei Partner, um einen Neubeginn zu wagen. In ein paar Jahren wird man klarer sehen und besser verstehen. Wie schreibt der dänische Philosoph Sören Kierkegaard: „Das Leben wird nach vorne gelebt und nach rückwärts verstanden.“ Manchmal wünscht man sich, es wäre umgekehrt!
Straubinger Tagblatt vom 10. Juni 2023