„Wer zum Beispiel behauptet, der historische Jesus sei ,in den Himmel aufgefahren‘, muss sich sagen lassen, dass er bloß ein poetisches Bild gebraucht, dessen Wahrheitswert nicht größer ist als der des Märchens vom Rumpelstilzchen.“ Auf diese griffige Formel bringt der Psychiater und Psychotherapeut Werner Huth, selbst praktizierender Christ, die Bildsprache der Evangelien von Weihnachten bis Ostern. Und so ist es kein Wunder, wenn nicht nur wegen Corona an Ostern die Kirchen von Jahr zu Jahr immer leerer werden. Und die Frage stellt sich: Gibt es denn aus dem Ostergeschehen heraus überhaupt noch einen Impuls, der für unsere postmoderne Welt fruchtbar sein kann?
Blicken wir auf die andere Seite der Medaille, auf das 21. Jahrhundert: Weshalb lässt sich der italienische Post-Faschist Matteo Salvini 2016 mit einem T-Shirt fotografieren, das als Kritik an Papst Franziskus die Aufschrift trägt „Mein Papst heißt Benedikt.“ Und er fügt hinzu: „Benedikt hatte sehr klare Vorstellungen, was den Islam betrifft. Ich mag es nicht, wenn einer die Kirche für die Imame öffnet.“ Offensichtlich also ist das kulturelle Erbe des Christentums so stark, dass selbst ein bekennender Unmensch wie Matteo Salvini sich in seiner nationalistischen Politik auf die Felder von Glauben und Religion begibt, um dort seine üble Agenda zu betreiben. In dieser Polarität von scheinbarer Bedeutungslosigkeit auf der einen Seite und einem geistig-kulturellen Erbe auf der anderen, an dem nicht einmal ein Politiker vom Schlag Salvinis vorbeigehen kann, steht die christliche Religion heute. Andere auseinanderstrebende Pole kommen hinzu: Auf der einen Seite besucht ein mutiger Papst Franziskus unter Lebensgefahr den Irak, um ein Friedenszeichen zu setzen. Spricht immer wieder die ökologische und soziale Gefährdung einer globalisierten Welt an, wo es sich die Reichen auf Kosten der Armen und der zukünftigen Generationen gut gehen lassen. Auf der anderen Seite tauchen im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche immer neue Schattenseiten auf – und ein echter Wille, all das wirklich aufzuklären, ist oft nicht erkennbar. Kardinäle, wie der unerträgliche Kölner Rainer Maria Woelki, kleben auf ihren Bischofssitzen wie Politiker, deren Leben ohne ihr Amt für sie selbst offensichtlich keinen Sinn mehr macht. Wer wollte einem solchen Glaubensmann noch glauben!
Auf der einen Seite gibt es immer noch die Klöster, in denen in Armut und Gebet Spiritualität gelebt und gepflegt wird. Auf der anderen Seite gibt es in Rom um das Geld der Kirche Skandale, die in einem Atemzug mit der Affäre um Wirecard genannt werden dürfen. Auf der einen Seite weigert sich ein neuer Papst, den Papstpalast im Vatikan zu beziehen, um ein Zeichen zu setzen. Auf der anderen Seite bleibt seine bischöfliche Entourage in großen Teilen so eitel und hohl wie eh und je. Rom und der Vatikan: ein Jahrmarkt der Dekadenz und der Eitelkeiten. Wer dort war, wird es bezeugen. Und gerade im Missbrauchsskandal tun sich Abgründe auf von extremer Gewalt, die Leben zerstört hat und immer noch zerstört. Wie soll all das noch zusammengehen? Wer will hier noch vertrauen?
Die ganz andere Seite: der Blick nach innen: Jeder Mensch spürt das Lied von Konstantin Wecker in sich: „Genug ist nicht genug.“ Eine Welt ohne einen transzendenten Horizont – trostlos! Der Jesuit Karl Rahner beschreibt es so: „Gleichsam mit den Sandkörnern des Strandes beschäftigt, wohnt der Mensch am Rande des unendlichen Meeres des Geheimnisses.“ Glaube als Erfahrung. Als ganz persönliche Erfahrung. Glaubenserfahrung ist nicht katholisch. Sie ist auch nicht exakt beschreibbar oder gar erzählbar. Ein Mensch spürt plötzlich eine andere Dimension. Beängstigend, aber doch unabweisbar. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch über eine Transzendenzerfahrung, die er seiner Figur Stiller in den Mund legt: „Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, lässt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: Man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.“ Dem Geschwätz der Welt entkommen.
Weihnachten als Bild für die Armut des Menschen, der er ausgesetzt ist. Ein Leben lang. In jeder Weise. Eine Annäherung über ein Erzählen mit Bildern und Geschichten. Eine Krippe, in der Jesus lag, hat es in der überlieferten Form wohl kaum gegeben. Und eine Auferstehung wie bei Raumschiff Enterprise, sodass Jesus plötzlich nach oben gebeamt wird? Absurd. Aber was es gibt – und das bleibt doch für viele spürbar, selbst noch in den problematischen Formen der Esoterik: eine geistige Welt jenseits von Raum und Zeit. Eine Überstiegsfähigkeit in ein anderes Bewusstsein. Eine Verwandlung. Ein Entkommen aus der geistigen Enge, die plötzlich unerträglich geworden ist. Ein Atemholen, das ganz unverhofft wie ein Geschenk, als ein Geschenk geschieht. Wer wollte das ablehnen. Christen glauben: Jesus hat am Kreuz nicht zurückgeschlagen, um ein Zeichen zu setzen für alle Zeit. Gegen die Endlosspiralen von Gewalt und immer neuer Gewalt. Damit bis heute im einzelnen Menschen ein neuer Friede kommen kann. Trotz aller Gewalt in der Welt. Die Beobachter des Vatikans sagen: Der neue Papst wird es nicht schaffen. Rom bleibt Rom und er machtlos gegenüber den jahrhundertealten Strukturen, die ein Mann nicht ändern kann. Die dort oft böse sind und voller Gewalt.
Was von Franziskus bleiben wird, ist tatsächlich vielleicht nicht mehr als ein Zeichen. Dass es anders sein soll, als es ist. Glaubhaft, aber nur ein Zeichen. Eine Geschichte, die er erzählt. Seine Geschichte, im Unterschied zu den Geschichten, die wir nicht mehr hören können und die in den Zeitungen aus gutem Grunde immer wieder erzählt werden müssen. Aber keine Wende, wie von vielen erhofft. Ein Grund, sich von Religionen ganz abzuwenden?
Der Jesuit Karl Rahner sagt: „Der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker‘ sein, der etwas ,erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Wer aber aus der eigenen unverwechselbaren Erfahrung heraus lebt, erkennt den anderen, der im gleichen Licht lebt. Der andere Friedfertige, ganz gleich, welche Religion er hat. Das Vertrauen von Menschen in ihre Kirche wurde über Jahrzehnte immer wieder schwerst verletzt und missbraucht, das muss Thema in den Medien bleiben. Das kann man erzählen, man muss es erzählen. Die Glaubenserfahrung kann man nicht erzählen. Aber sie wird doch für viele Menschen genauso ein Thema bleiben. Das ist Ostern – heute im Jahr 2021.
Straubinger Tagblatt vom 27. März 2021