Die Königin der Tugend ist die Liebe – Mit „Der Primat der Liebe“ hat der Theologe August Adam 1931 ein revolutionäres Buch veröffentlicht

Zwei Ursachen hat es, dass das Ostergeschehen dem Menschen von heute allzu oft fremd bleibt. Die erste ist ganz einfach zu verstehen: Dass eine Geschichte, die vor 2000 Jahren geschehen ist, im Jahr 2021 bedeutsam sein soll, bleibt für viele heute unverständlich. Leben ist hier und jetzt, was soll der Bezug auf etwas, was 2000 Jahre her ist? So denken sie. Das gilt dann nicht nur für die Ostergeschichte, sondern genauso für die Philosophie der Vorsokratiker oder die antike Tragödie. So etwas gibt es, da kann man wenig machen.

Die zweite Ursache des Befremdens ist da schon interessanter. Es ist vor allem der Karfreitag, der den Menschen allzu häufig im Magen liegt: das Opfer des eigenen Sohnes, das ein allmächtiger Vater offensichtlich einfordert, um die Schuld der Menschen zu sühnen. Das stößt aus gutem Grunde ab. Wer sollte einen solchen Gott lieben! Auch wenn der Sohn dann drei Tage nach seinem Tod auferstehen darf. Das erinnert an dunkelste Mythen der Antike, an Opferkulte heidnischer Religionen, an eine Welt von gestern und vorgestern. Damit will man aus gutem Grund nichts zu tun haben!

Gerade der Karfreitag ist ein Symbol der Liebe

Aber diese Deutung von Ostern ist eben selbst von vorgestern. Denn die Theologie von heute hat längst einen Perspektivenwechsel vollzogen. Im Kreuzestod steht Jesus selbst ein für die, die ihn töten. So verstehen wir das heute. Es ist nicht der Wille eines herzlosen Gottvaters, der ihn in den Opfertod jagt. Vielmehr versöhnt Jesus aus eigenem Willen in dem radikalen Friedenszeichen des Kreuzestodes gerade den Mörder mit sich selbst und nicht den Gottvater. Bringt den Menschen nicht vor einen Richterstuhl, sondern bricht gerade dem Bösen neue Bahn – zurück in seine besseren menschlichen Möglichkeiten. Schafft so eine neue Welt für die, die sich in seinem Namen begegnen und Frieden halten wollen, so schwer das in dieser Welt ist. Für die Guten und die Bösen, eben für alle, die am Ende guten Willens sind.

Dieser lichtvolle Aspekt des Ostergeschehens zerstört aus dieser Perspektive nicht die Frohe Botschaft der Evangelientexte. Es gibt ja gerade heute viele Menschen, die mit diesen vier Evangelien durchaus etwas anfangen können und das auch laut sagen. Die Friedensbotschaft des Neuen Testaments spricht gerade in unserer Gegenwart viele an, aber die Düsterkeit des Karfreitages stößt sie dann doch zurück. Wer freilich versteht, dass auch der Karfreitag im Zeichen der Liebe und des Friedens steht, von dem die Evangelien künden, der findet den eigentlichen Königspfad zum Glauben. Das haben die Theologen aber selbst lange nicht verstanden. Erst das Zweite Vaticanum von 1962 bis 1965 hat hier eine Wende eingeläutet, hat die Fenster geöffnet, wie es damals Papst Johannes XXIII. ausdrückte.

In seiner Folge kamen dann endlich die Theologen zu Wort, die das Düstere des Glaubens überwinden konnten: ein Karl Rahner, der die Verbundenheit aller Menschen mit Gott im mystischen Glauben verkündet. Ein Eugen Drewermann, der bei aller persönlichen Problematik das psychische Heil des Menschen sucht. Ein Eugen Biser, der vom „inwendigen Lehrer“ spricht, als den der Mensch Christus in sich erleben könne. Oder auch ein Hans Küng, der bei aller Eitelkeit doch so viele kluge Impulse gegeben hat.

Interessant ist aber, dass diesen hellen und lichten Glaubensansatz mit als erster ein Religionslehrer aus Straubing bereits Jahrzehnte vorher in einem Bestseller herausgearbeitet hat. „Der Primat der Liebe“ heißt das Buch von August Adam, das dieser zu einem Zeitpunkt schreibt, als die Kirche vielerorts noch in den Abgründen eines verstockten Konservatismus festhängt. Bereits 1931, also ein bis zwei Generationen vor seinen heute so bekannten Kollegen, stellt er fest, dass das einseitige „Hinstarren auf die Erbschuld einem Sünden- und Vergänglichkeitspessismismus huldige“, der mit der Frohen Botschaft der Evangelien wenig zu tun habe. Eine „Religion des Kreuzes“ lasse selbst im „gläubigen Christen eine gänzliche Hingabe an dieses Leben mit seiner Last und Lust, mit seiner Abwechslung von sauren Wochen und frohen Festen nicht aufkommen“.

Interessant ist aber vor allem, dass Adam, der „nur“ Religionslehrer in Straubing war, in seinem Buch, das 1954 bereits in sechster (!) Auflage vorliegt und 1957 zum ersten Mal auf Englisch erscheint, all die Irrwege aufdeckt, die die moderne Theologie heute als Fehlentwicklungen des Christentums ansieht: dass Platon mit seiner Abwertung des irdischen Daseins zugunsten der Welt abstrakter Ideen den christlichen Glauben genauso verfälscht hat wie der orientalische Dualismus, der Geist und Leib auseinanderdividiert. Falsche asketische Ideale, übersteigerte Formen der Vergeistigung, damit verbunden die Abwendung von dieser Welt, die wir täglich erleben dürfen, und von diesem Leib, der unserer ist und den wir nicht abschütteln können.

Es ist kaum zu glauben, mit welcher Genauigkeit Adam bereits 1931 die Situation des Glaubens zutreffend analysiert. Dass nämlich „eine übersteigerte Vergeistigung, die über die reale Tatsache des Körpers und seiner berechtigten Bedürfnisse hochmütig hinwegsah und von ihren Jüngern Unnatürliches und daher Unmögliches verlangte“, einen „schrankenlosen Materialismus, ein völliges Sichhingeben an den Genuß“ erzeugte, ein exzessives Ausleben gerade der sexuellen Triebe, „das sich nicht mehr schuldig fühlte, sondern sich als Ausfluß einer höheren, sublimeren Sittlichkeit gebärdete. Denn wenn das Körperliche und das Geistige ganz verschiedenen Welten angehören, sei ja eine Befleckung des Geistes durch die Regungen des Fleisches unmöglich. Die Seele sei derart über den Körper erhaben, dass sie von dem, was in ihm vorgehe, völlig unberührt und unabhängig sei. Damit war die Formel gefunden, mit dem frömmsten Augenaufschlag die unzüchtigsten Laster verbinden zu können“.

Wer solches heute liest, dem drängen sich natürlich die Bilder der Priester, Bischöfe und Kardinäle vor Augen, die des sexuellen Missbrauchs ihrer Schutzbefohlenen längst überführt sind.

Wie die Moral das Gebot der Liebe verdrängt hat

Spannend ist bei Adam allerdings auch, dass er die Moral, die plötzlich seit dem 18. Jahrhundert den Glauben und die Liebe zu ersetzen beginnt, in ihrer ganzen Problematik durchschaut. „Unwillkürlich kam man auch hier (gemeint: im Christentum) in dasselbe gefährliche Geleise, in dem der ganze aufklärerische Zeitgeist dahinfuhr, nämlich die Moral über die Religion zu setzen und die Religion nur mehr als Stütze eines ‚moralischen Lebenswandels‘ einzuschätzen.“ Moral aber ist immer weniger als Liebe, und zudem führte das historisch, wie August Adam zutreffend sieht, zum „Kavalier des 18. Jahrhunderts“ oder zum „aufgeklärten, liberalen Spießer des 19. Jahrhunderts  …  Moralisch wird zum Gleichwort für anständig.“

Und das war und ist in dieser Welt zu wenig! Nicht nur für August Adam. Denn von Moral spricht am liebsten der, der keine hat, so könnte man das heute auf den Punkt bringen. Dass auch im christlichen Glauben die Moral plötzlich überstark das Wort führt und nicht mehr die Offenbarung oder das Liebesgebot Jesu, das hat Adam als einer der Allerersten mit großer intellektueller Schärfe gesehen.

Ein Leben aus dem Glauben, so schreibt Adam am Ende, „erschöpft sich nicht in der bloß verstandesmäßigen Bereitschaft zur Annahme der Dogmen, erst in der Begegnung mit dem Leben wirken sie ihre göttlichen Energien aus“. Und was hält dann dieses Leben ganz im Innersten zusammen? Nicht die Vernunft, wie Adam herausstellt, nicht die Dogmen aus Rom, auch nicht die Leistung eines Menschen, und mag sie noch so großartig sein. „Die Königin unter allen Tugenden, die Perle unter ihnen ist darum unzweifelhaft die Liebe. Und wer – selbst in bester Absicht – irgendeine andere Tugend zur Königin macht, entthront dadurch die Caritas und verschiebt den Akzent der Sittlichkeit vom zentralen auf ein peripheres Gebiet.“ Natürlich ist das etwas altertümlich geschrieben, aber von seinem Inhalt her ist das gerade heute brandaktuell!

Straubinger Tagblatt, Osterausgabe vom 2. April 2021