Am Anfang von Markus Lanz’ Karriere im Deutschen Fernsehen stand eine schreckliche Talk-Show. Fünf Gäste aus ganz verschiedenen Lebensbereichen saßen fein aufgereiht – wie die Affen auf der Stange – nebeneinander und erzählten von sich selbst. Es war schrecklich. Nach rund zehn Minuten war die jeweilige Biographie durchgearbeitet, und Markus Lanz wandte sich seinem nächsten Opfer zu. Ein Tiefpunkt der Fernsehgeschichte.
Was dann passierte, hat der Fernsehmoderator Micky Beisenherz vor kurzem in einem Essay so zusammengefasst: „Es ist nicht ganz klar, wann exakt sich die Sendung des lange unbeliebten, ja verhassten Markus Lanz zur oft interessantesten und eigentlich immer unterhaltsamsten politischen Talkshow im deutschen Fernsehen entwickelt hat. Am einen Ende des Halbrundes sitzt Lanz, daneben ein (noch) gut gelaunter Politiker mit schlechter Sozialprognose, Wahrheiten antäuschend – am anderen Ende die Superspezies der sogenannten Hauptstadt-Journalisten, die erklären, warum das gerade ein halbgarer Versuch war, an den Realitäten vorbeizustolpern … Man muss Schäuble oder Kubicki sein und wirklich vollkommen schmerzfrei, um Lanz durch stures, nicht endendes Weiterschnarren (Schäuble) oder eben Lächeln und Sich-Doof-Stellen (Kubicki) zu entwischen.“
Es stellt sich also die Frage, was die Methode ist, mit der sich Markus Lanz von den anderen Talk-Shows so positiv unterscheidet? Nehmen wir Anne Will oder Maybrit Illner zum Vergleich. Das ist langweiliger. Warum? Das sind klassische „Unterhaltungssendungen“. Menschen sitzen zusammen und sprechen über ein Thema. Moderiert von der Gastgeberin. In der Regel werden da im Gespräch bekannte Meinungen vorgetragen. Von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens. Immer ein Blick auch auf die Kameras und die Menschen zuhause, bei denen man um Interesse oder sogar Wählerstimmen wirbt. Oft durchschaubar, häufig durchaus langweilig. Inszenierter Streit, bekannte Positionen, die immer gleichen Gäste.
Geschickt lockt er seine Gäste aus der Reserve
An diesem Punkt entsteht im Übrigen auch der Verdacht derer, die glauben, dass ihnen die Medien nur ein manipuliertes Bild von der Wirklichkeit präsentieren: einen medialen Einheitsbrei, der die eigentlichen Probleme und Sachverhalte verschleiert. Der in die Irre führen soll und politische und gesellschaftliche Wirklichkeit regelrecht verstellt, statt den Blick auf sie zu öffnen. Und schon ist wieder Sonntag, und ein neues Kapitel der medialen Einheitsversorgung wird aufgeschlagen.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die gänzlich andere Diskursstrategie von Markus Lanz an Profil. Das beginnt schon damit, dass er sich die Mühe macht, dreimal in der Woche auf Sendung zu gehen. Er begleitet tatsächlich interessiert durch die Themen der Woche. Während vor Jahren eine bekannte Talkshow-Moderatorin einmal pro Woche braun gebrannt aus Mallorca zur Sendung einflog, um dann wieder an die Strände der geliebten Ferieninsel zu entschwinden, hat das, was Lanz da gut informiert von Dienstag bis Donnerstag tut, mit harter Arbeit zu tun. Das erinnert an Harald Schmidt, als er vor Jahren noch fast jeden Abend seinen Zynismus zelebrierte. Das war spannend, so schlimm es auch manchmal war. Als er das später – von sich und vom Leben gelangweilt – noch einmal pro Woche vorführte, wurde es bedeutungs- und farblos. Am Ende wurde er Traumschiffkapitän – auch ein Schicksal.
Aber der entscheidende Aspekt bei Lanz, der ihn so erfolgreich macht, ist ein ganz anderer: Es gibt keinen anderen Moderator, der so viel Blödsinn erzählt wie er. „Und ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode!“ Denn durch diese regelrechte Provokation lockt er seine Gesprächspartner zwangsläufig aus der Reserve. Und genauso bricht er am Ende tatsächlich die gewohnten und eingeübten Diskursmuster auf, und es wird die bis dahin verborgene Wahrheit erkennbar: die Wahrheit der Dinge, über die gesprochen wird, aber auch die Wahrheit der Personen selbst, die da reden und die plötzlich in einem neuen Licht erscheinen und – ohne das zu wollen – mehr von sich preisgeben, als ihnen lieb ist. Auf diese Weise aber werden genau die Einheitsmuster des politischen Gesprächs, die in anderen Sendungen oft so tödlich sind, durchbrochen, und es wird eine neue und interessantere Ebene des Gesprächs eröffnet, die viel näher an der Wirklichkeit ist. Und das ist spannend.
Um es noch besser zu erklären: Im wissenschaftlichen Diskurs an den Universitäten gibt es oft sogenanntes Machtwissen. Dort wird in Diskussionen bewusst vieles nicht gesagt, damit nur ja niemand das aufschreibt, was man sich selber so mühsam erarbeitet hat. Aber es gibt ein probates Mittel, um den verschwiegenen Fachmann und Professor zum Sprechen zu bringen: Man muss über sein Fachgebiet absichtlich völligen Blödsinn erzählen. Da widerspricht der Professor sogleich zornig, und man weiß dann nicht nur, wen man vor sich hat, sondern vor allem auch, was der andere wirklich denkt und lehrt. Genau diesen entlarvenden Mechanismus bedient Markus Lanz jeden Abend.
Der politische Akteur wird an der Realität gemessen
Aber es kommt noch ein Zweites hinzu: Es sind immer zwei Gegenspieler, die Markus Lanz ganz bewusst aufeinander loslässt. Auf der einen Seite der Akteur: der bekannte Politiker, der sich stellt. Auf der anderen Seite der Beobachter, der Journalist oder auch der Wissenschaftler, der das Sprechen des Akteurs überprüft und bewertet. Er spricht weniger mit dem Politiker, der da vor ihm sitzt, sondern in dessen Gegenwart über ihn. In anderen Sendungen werden die Positionen dieser beiden Antipoden vermischt und stehen eher gleichbedeutend nebeneinander. Bei Markus Lanz muss sich der politische Akteur in der Fernseh-Arena regelrecht bewähren, denn alles, was er sagt, wird sofort von außen eingeordnet und eingenordet.
Nur wenn das, was er sagt, von den anderen Gästen, die alle die Außenperspektive bedienen, als reell bewertet wird, gibt es dann das Gespräch unter Gleichrangigen. Ansonsten wird das Ganze eher eine Entlarvung. Eine Offenbarung, wie man sie bei Markus Lanz nicht selten erlebt.
Sigmund Freud hat über diese Mechanismen von Verdrängung und Wirklichkeit zahllose Aufsätze geschrieben. Wahrheit wird nach Freud dort erkennbar, wo sich plötzlich das Unbewusste zeigt und äußert, wie etwa bei der Mutter eines Mädchens, das sich verlobt hat und jetzt ihren zukünftigen Bräutigam vorstellt, der auch noch reich ist. Freud schildert, wie die Mutter eigentlich sagen will, dass sie sich schon ganz „familiär“ fühle, aber aus Versehen „famillionär“ sage. Wenn es gelingt, hinter die Fassade der vorgeblichen Wirklichkeit zu kommen, wird es spannend – in der Psychologie, aber auch im Fernsehen.
Man kann natürlich sagen, dass man jetzt bei Lanz über Monate die immer gleichen Virologen vorgeführt bekam. Aber es ist doch dabei ein Bild entstanden, wer seriös ist und wer eher nicht. Man will zwar nicht in der düsteren Welt des Karl Lauterbach leben, aber seriös ist er schon. Und die strenge Melanie Brinkmann – alle Analysen von ihr waren am Ende doch zutreffend, und man wurde auf beste Weise informiert und begleitet.
Dennoch wird Lanz die Fernsehnation weiter spalten: durch sein ungehöriges Dazwischen-Reden gerade in Situationen, in denen es auch ohne sein Zutun schon spannend ist, seine unerträgliche Selbstsicherheit und die Freundlichkeit, hinter der er das rhetorische Messer im Gewande perfekt verbirgt. Wollte man mit Markus Lanz befreundet sein? Bei der Geschwindigkeit, in der er lebt, wird’s kaum gehen.
Straubinger Tagblatt vom 8. Mai 2021