Zwei Seelen in einer Brust – auch Familienhund Caruso kennt den Zustand innerer Zerrissenheit

Hallo, Herr Caruso! 

Caruso: Was gibt’s denn jetzt schon wieder?

Ich habe jetzt doch noch einige Nachfragen zu unserem Gespräch von vorletzter Woche. 

Aber das war doch am Ende alles sonnenklar!

Nicht ganz. Wir sprachen über die Unmöglichkeit, die ganze Welt wirklich zu erkennen. Aber wie ist es denn mit uns selbst? Können wir wenigstens uns einigermaßen verstehen? 

Ich weiß jetzt wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen…

Also ganz einfach, in mir sind so ganz unterschiedliche Strebungen, Wünsche, Begierden…

Die da wären?

Also zum Beispiel, wenn ich im Urlaub bin, habe ich Sehnsucht nach meinem Zuhause… 

Da sind Sie ja schön blöd….

Ja, aber noch schlimmer, zu Hause habe ich dann wieder Sehnsucht nach Urlaub! 

Das klingt ein wenig seltsam für mich….

Ja, und es ist auch bei vielen anderen Dingen so… in Bewegung habe ich Sehnsucht nach Ruhe und in Ruhe Sehnsucht nach Bewegung; und ganz schlimm ist es in meiner Beziehung zu Menschen… 

Wie das denn?

Also wenn ich mir vornehme, zu jemandem besonders nett zu sein – und ich seh’ den dann wirklich, dann vergesse ich meinen Vorsatz und finde ihn schrecklich. Wenn ich aber jemanden nicht mag und dem das auch sagen will – und ich treff’ den dann, so find ich den plötzlich gar nicht mehr so schlimm und unsympathisch, und bin plötzlich ganz nett zu dem. Was ich sagen will, ist: In mir sind so viele verschiedene, auseinanderstrebende Dinge. Und Sie sind doch so ein richtig schlauer Hund, da wollte ich Sie einfach um Rat fragen… 

Also erst einmal: Ich kann Sie ein wenig beruhigen. Eigentlich ist das, was Sie erleben, gar nicht so ungewöhnlich. Schon euer bekannter Dichter Johann Wolfgang von Goethe schreibt doch: „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.“ Und seinen Faust lässt er sagen: „Im Genuss verschmacht ich nach Begierde…“ Der kann ja noch nicht mal die Erfüllung seines Begehrens genießen, der Idiot!

Ja eben, das kenn ich – und bei Ihnen ist das so anders: Jeden Tag, Punkt 18 Uhr – man kann die Uhr danach stellen – stehen Sie vor der Speisekammer und warten auf Ihr Abendessen… nichts kann und darf Sie dabei stören… reine Begierde also; und beim Genuss stört Sie auch nichts. Es ist sehr erkennbar für mich, dass Sie dann beim Vollzug des Abendessens an nichts Anderes denken! Sie sind also doch offenkundig einen großen Schritt weiter als Goethe! 

Natürlich, aber das darf Sie nicht irritieren. Es gibt andere Situationen, wo auch ich im Innersten zerrissen bin.

Da wäre ich dankbar, wenn Sie das schildern könnten… 

Also, Sie wissen: Ich hasse Katzen…

…ist mir sehr bewusst… 

…also muss ich die jagen. Mit einem ungeheuren Trieb. Ich kann nicht anders. Kilometerweit. Ich verfolge die… und endlich steht die Katze mit dem Rücken zur Wand, oder auch zu einem Gartengitter, das so schmal ist, dass sie nicht mehr durchkommt…

Und dann? 

Sie dreht sich um und blickt mich an… und in ihrem Blick liegt Todesangst. Ihre letzte Stunde hat also geschlagen…sie bibbert am ganzen Körper und da passiert es dann in mir…

Was passiert dann? 

Ich bekomme Mitleid mit der Katze… großes Mitleid!

Und dann? 

Hab ich zwei Seelen in meiner Brust: meinen Jagdtrieb, aber auch Mitleid, beides nahezu gleich stark.

Und wie geht’s aus? 

S’is ehrlich gesagt noch nie passiert. Immer wenn ich die Katze sehe, sitzt sie schon auf einem Baum und lacht mich an!

Herr Caruso, ich habe heute wieder unendlich viel von Ihnen gelernt. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch! 

Straubinger Tagblatt vom 30. November 2024