Wie Frieden wahren?“ Unter dieser Überschrift beginnen wir mit dem heutigen Tag eine ganze Serie von Texten, in der von uns eingeladene Autoren zu diesem Thema schreiben. Warum? Im letzten Frühjahr veranstaltete der Münchner Kirchenrektor Karl Kern SJ eine Predigtreihe, in der Menschen auftraten, die den Krieg und das Kriegsende vor 75 Jahren noch selbst erlebt haben.
Die meisten von ihnen sind heute über 90 Jahre alt. Aber aus ihren Schilderungen wurde nochmals das ganze Grauen erlebbar und regelrecht spürbar von einer Zeit, in der der Frieden verspielt worden war. Es war ja nicht erst Hitlers Weltkrieg, der die Welt in Flammen setzte, sondern schon vorher der furchtbare Erste Weltkrieg und auch all die blutigen Auseinandersetzungen, die das ganze 19. Jahrhundert geprägt hatten.
Was dann folgte, waren Friedensjahre, an die wir uns gewöhnt hatten. Am Anfang standen sie noch unter dem Zeichen eines drohenden Nuklearkrieges zwischen den verfeindeten Blöcken in Ost und West, aber dann kamen die wunderbaren 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, als in Russland Michail Gorbatschow unsere Welt so änderte, dass man auf einen sicheren Frieden über Jahrzehnte hoffen durfte.
Doch dann plötzlich ganz schnell die große Verdüsterung: Gorbatschow stürzte über große wirtschaftliche Schwierigkeiten im eigenen Land, und seitdem verfinsterte sich auch weltweit der Friedenshorizont in unglaublicher Weise. Heute steht die Welt hochgerüstet da wie nie zuvor! In Russland regiert Putin mit eiserner Faust, in Amerika haben die Trump-Jahre einen unglaublichen Rückschritt für die weltweite Friedenskultur bedeutet, auch wenn Trump scheinbar seine Truppen nach Hause brachte. In China hat der „unübertroffene Steuermann“ Xi Jinping wohl tatsächlich schon Zehntausende seiner Kritiker verschleppen und töten lassen; und in den Gefängnissen der Türkei schaut es kaum besser aus. Auch dort wird gefoltert, und Widerstand gegen Erdogan soll es erst gar nicht geben. Und nach außen zeigen sich auch diese Länder aggressiv und beteiligen sich an Kriegen, die Türkei an allererster Stelle.
Mitten in dieser Welt, die sich so verdunkelt und verdüstert hat, leben wir. In Deutschland, in Europa. Den Frieden gewohnt, vom Frieden verwöhnt. Für selbstverständlich nehmen wir es, dass schon nichts geschehen wird, was uns in Europa bedroht. Aber das ist es eben beileibe nicht! Es ist es allein deshalb nicht, weil um den Frieden immer wieder neu gerungen werden muss.
Ein Psychotherapeut, den ich gut kenne, hat mir erzählt, dass er einmal auf einem Kongress ausgebuht wurde, weil er behauptete, dass in jedem Menschen auch ein Mörder stecke. Aber hat es denn Sinn, vor dem Bösen einfach die Augen zu verschließen? Und ist es nicht viel zu konziliant, wenn ein Regimegegner Saudi-Arabiens in einer Botschaft seines Landes in Istanbul ermordet und zerstückelt wird und die Reaktion unserer Kanzlerin ist: „Das geht zu weit.“ Liegt in einem solchen Satz das ganze Erschrecken, das einen erfassen muss, wenn getötet und gemordet wird? Sind wir nicht selbst schon viele billige und faule Kompromisse eingegangen, die den Frieden und das Menschenleben nicht mehr so würdigen, wie das im Letzten notwendig ist.
Und auch wenn wir in unser eigenes Land schauen: Ein Drittel der Menschen hier hat Angst, vom Wohlstand und damit von der Teilnahme an der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Angst und Aggressivität aber bedingen einander. Und ist nicht auch die Sprache oft schon verroht? Wenn in München ein Fahrradfahrer willkürlich niedergestochen wird und sterben muss, nur weil er einen anderen Mann zur Rede stellt, der seine Begleiterin beleidigt hat – sind das nicht größte Alarmzeichen für unsere Gesellschaft?
In unserer Textreihe, mit der wir heute beginnen, wollen wir über mehrere Wochen und Monate Menschen zu Wort kommen lassen, von denen wir glauben, dass sie zum Thema Frieden in der Welt etwas zu sagen haben. Uns ist dabei völlig gleichgültig, wo sie politisch stehen. Wir wollen mit dieser Fortsetzungsreihe einfach ein Zeichen setzen und Aufmerksamkeit für die Sache des Friedens erwecken, auch wenn uns bewusst ist, dass all das nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein wird. Aber irgendwo und irgendwie muss man ja immer beginnen!
Straubinger Tagblatt vom 14. November 2020