Dass es eine Lust am Bösen gibt, das ist unbestritten. Den anderen zu quälen, ihm eins auszuwischen, ihn zu verdächtigen, ihm am Zeug zu flicken – wie viele Spielarten des alltäglichen Bösen gibt es doch. Am liebsten dort, wo der andere am allermeisten auf Wohlwollen angewiesen ist: in der Arbeit oder auch in seinen Beziehungen.
Vom „Schamlos-Minister“ also sprach die Zeitung mit den vier Buchstaben am letzten Sonntag und erzählte die Geschichte vom Entwicklungsminister Gerd Müller, der bei seinen Auslandsreisen so gerne seine Ehefrau mitnehme und in Afrika in Fünf-Sterne-Hotels absteige. Abgesehen davon, dass es in den meisten afrikanischen Ländern nur wenige Hotels gibt, in denen die Sicherheitsstandards für Politiker einigermaßen lebensfreundlich sind, so sprechen wir dann doch auch bei Hotels in Afrika (!) nicht von Qualitätsmerkmalen, wie sie uns aus der Schweiz oder dem Allgäu geläufig sind. Und dass es sicher Politiker gibt, die sich auf Auslandsreisen lieber mit den schärfsten Oppositionsleuten umgeben als mit der eigenen altbewährten Ehefrau – geschenkt.
Mittlerweile haben sich die Vorwürfe gegen Müller – soweit man das bisher beurteilen kann – als vollkommen haltlos erwiesen. Neun Mal – bei 25 Auslandsreisen des Ministers – war die Ehefrau dabei, jedes Mal wurden die Kosten von Müller selbst bezahlt und sein Argument, dass ihm die weibliche Perspektive seiner Frau im politischen Gespräch mit den oft entrechteten Frauen Afrikas geholfen habe, ist ja auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Fünf Tage pro Woche sind die Abgeordneten in Berlin von ihren Familien getrennt, was spricht da dagegen, dass die Ehefrau bei einer Auslandsreise mitfliegt?
Und es kommt ja noch hinzu, dass es gerade der entwicklungspolitische Sprecher der SPD, Sascha Raabe, war, der in dieser Woche den CSU-Minister ausdrücklich in Schutz nahm, als er sagte: „Ich war im Februar weder zu einer Afrikareise eingeladen noch hatte ich für diesen Monat angefragt, an irgendeiner Dienstreise teilzunehmen“, sodass es also eine Ausladung zugunsten der Ehefrau, wie die Bild-Zeitung insinuierte, wenigstens in diesem Fall gar nicht gab. Zudem bekräftigte der SPD-Politiker auch noch dazu, wie sehr er Müller schätze und achte.
Keine Zeitung, wenn man die Bild großzügig zum Genre der Zeitungen überhaupt dazurechnen will, wird auch nur annähernd so oft beim Deutschen Presserat gerügt oder missbilligt wie die Bild-Zeitung. Das System, mit dem sie arbeitet, ist billig und leicht zu durchschauen. Ohne sich selbst an ethische Standards zu halten, begibt man sich auf ein moralisches Podest und deutet mit dem dicken Zeigefinger auf die vorgeblichen Fehler der anderen. Eine primitive mediale Erregungskultur hält so immerhin noch einige Millionen Leserinnen und Leser bei der Stange, die wahrscheinlich nicht wissen, wie man das Internet bedient. Aber auch die sterben doch langsam aus.
Dabei ist der Entwicklungsminister Gerd Müller über alle Parteien hinweg geachtet für seine Arbeit, die doch vieles in der Dritten Welt verändert hat. In seinem Buch „Umdenken. Überlebensfragen der Menschheit“ wird deutlich, wie sehr er sich für die Ärmsten der Armen eingesetzt hat und einsetzt. Vom Klimaschutz bis zur Bekämpfung des Hungers, der dort so schlimm ist, leidenschaftlich nimmt er Partei für die, die vom Wohlstand ausgeschlossen sind. All das könnte auch von einem Robert Habeck oder einer Führungsfrau bei Greenpeace geschrieben sein. Kein Wunder, dass er vor wenigen Wochen, einen Tag nach seiner Kritik an der mangelnden Bereitschaft in Deutschland, Flüchtlinge in Not aufzunehmen, seinen Rückzug aus dem Bundestag ankündigte. Weil, nach einem solchen Satz wird man in der CSU nichts mehr. Wer weiß, von woher die feindliche Attacke in der Bild am Ende kam.
Und die Kollegin Franziska Giffey (SPD), die ebenfalls in dieser Woche unter Beschuss kam, weil ihre Universität ihre problematische Doktorarbeit nochmals überprüft, wie muss man das bewerten? Da ist es sicher nicht nur Friendly Fire aus der eigenen Partei, das die hochbegabte Politikerin unter Beschuss nimmt. Da sind es die Rivalen vor allem aus der CDU, die natürlich wissen, dass sie gegen die in Berlin unglaublich beliebte junge Frau auf dem Politikfeld wenig Chancen haben.
Hervorgetan hat sich dabei der Deutschland-Chef der Jungen Union, Tilman Kuban. Ein weitgehend unbegabter Karrierist, der beim letzten deutschen Verlegertreffen in Berlin ein Grußwort hielt, das so dümmlich war, dass man sich nur mit Grauen abwenden konnte. Er fordert natürlich an erster Stelle den Rücktritt der Ministerin. Hat er in der Sache recht? Setzt der Fall Guttenberg hier tatsächlich den Standard, an dem alle anderen zu messen sind?
Rückblende: Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) schwebte damals ein in die deutsche Politik, als hätte Gott selbst ihn gesandt. Nach Jesus jetzt also er – das war die Botschaft! Unvergesslich seine politischen Reden, in der Regel ohne Aussage, aber vorgetragen, als würde jetzt gerade die Welt gerettet. Am Ende immer Standing Ovations der Gläubigen. Dann kam die gefälschte Arbeit ans Licht. Als er seinen Rücktritt bekannt gab, filmte das Fernsehen die Kanzlerin mit Annette Schavan (CDU), die das gemeinsam auf dem Handy sahen und wie es ihnen vor Freude das Gesicht verzog. Nach diesem Bild, das unvergesslich bleibt, musste natürlich auch die Schavan zurücktreten, als ihre Arbeit ebenfalls den wissenschaftlichen Standards nicht entsprochen hatte, um es freundlich zu sagen. Bestraft wurde bei beiden eigentlich nicht die gefälschte Doktorarbeit, sondern eher ein soziales Verhalten, das sich mit den abgeschriebenen Arbeiten nicht in Einklang bringen ließ.
Und die Giffey? Die hat jetzt sofort ihren Doktortitel zurückgegeben, noch bevor ein Urteil der Universität feststeht. Als Politikerin spielt sie – im Unterschied zu Schavan oder Guttenberg – in der ersten Liga. Das ist keine selbstverliebte Schaumschlägerin, nein, die setzt sich wirklich ein – und zwar gerade für die Menschen, die es in dieser Gesellschaft schwer haben.
Ihr die politische Zukunft zu verbauen wegen einer fehlerhaften Doktorarbeit, wäre ungefähr so, als hätte man Lothar Matthäus wegen seines lustigen Englisch aus der Nationalmannschaft entfernt. Auf Deutsch: Das kann man sich als Land, in dem es an politischen Begabungen – siehe Kuban – in allen Parteien fehlt, nicht leisten. Kommt erschwerend hinzu: Wir wollen doch, dass im Politikbetrieb endlich mehr hoch qualifizierte Frauen an führender Stelle beteiligt werden.
Auch bei Giffey wird es in nächster Zeit den berühmten moralischen Zeigefinger geben. Aber irgendwann wird das allen langweilig. Bis dahin sollte sie aushalten.
Straubinger Tagblatt vom 21. November 2020