Guten Morgen, Herr Caruso!
Guten Morgen, Professor!
Herr Caruso, ich muss Ihnen heute eine Geschichte erzählen, die Jahre her ist und mir einfach nicht aus dem Kopf geht.
Um Gottes willen, was treibt Sie denn um?
Ich bin vor ein paar Jahren mit ein paar Freunden nach Südfrankreich gefahren, ans Meer…
Das finde ich jetzt gar nicht so schlimm…
Wir kauften uns vor unserer Abreise noch zwei Flaschen Weißwein, setzten uns an einer einsamen Stelle ans Meer und wollten uns in Ruhe mit einem letzten Blick aus dem Urlaub verabschieden.
Klingt bisher ganz vernünftig.
Ja, aber dann geschah es! Unweit von uns setzte sich ein Penner auf ein umgedrehtes Fischerboot, das da in der gleißenden Sonne lag…
Hat der Sie gestört oder wie ist das mit Ihnen?
Nein, nein, warten Sie ab… Er hatte einen vollen Teller Nudeln in den Händen und einen Löffel, und er begann voller Hunger, diesen Teller Löffel für Löffel aufzuessen. Es gab nur diesen Teller für ihn, über den er gebeugt saß und der in diesem Augenblick die ganze Welt für ihn bedeutete.
Das kann ich wiederum bestens verstehen…
So saß er da, in abgerissenen Kleidern, einsam und verlassen, zerschlissene Schuhe, die Haare seit Tagen nicht gekämmt, mit einem Teller Nudeln, ein Bild, das ich bis heute nicht vergessen kann…
Hat es Sie in Ihrem Urlaubsgefühl gestört – oder warum erzählen Sie mir das?
Das ist ja das Interessante. Ich konnte in meiner Seele plötzlich nur noch bei ihm verweilen. Wer war er? Was hatte ihn hierhergeführt? Warum hatte er keine Freunde oder eine Familie, die ihm halfen? Er saß einfach da, mit diesem Teller Nudeln, die er gierig verschlang, ein Bild, das ich niemals vergessen werde. Ab und zu wagte sich eine Möwe in seine Nähe, der warf er dann hastig eine Nudel hin, damit die wieder wegfliegt.
Und dann?
Jetzt kommt das Spannende. Am Anfang war ich befremdet. Es graute mir vor seinem Schicksal, vor seinem Anblick. Aber je länger ich ihn erblickte, umso mehr verstand ich einen Satz, den ich plötzlich in mir hörte: „Auch das bist Du!“ So sagte eine laute Stimme in mir…
Aber das war doch der Andere! Der hatte doch mit Ihnen gar nichts zu tun, Sie kannten ihn noch nicht einmal!
Ja, das ist richtig. Aber je länger ich ihn ansah, umso mehr begriff ich. „Auch das bist Du!“ Es war, um ehrlich zu sein, eine spirituelle Erfahrung, ein religiöses Erlebnis, das ich in diesem Augenblick machte.
Und dann?
Mir wurde mit jeder Sekunde immer klarer, dass es nur ein Millimeter ist, der mich von seinem Schicksal trennt. Eine falsch getroffene Entscheidung, eine enttäuschte Liebe, eine abgebrochene Ausbildung, was weiß ich, was in seinem Leben geschehen ist – und was mir durch irgendwelche glücklichen Zufälle erspart geblieben ist. Was war mit seinen Eltern? Wo kommt er her? Es ist wirklich nur ein Millimeter, der mich von ihm trennt. Das wurde mir mit jedem Augenblick immer klarer.
Und, was haben Sie dann gemacht? Sind Sie auf ihn zugegangen?
Nein, ich war einfach nur erschüttert. Die Zeit stand wie still, ich dachte gar nicht daran, irgendwie zu handeln…
Das ist wieder ganz der Professor… also wenn ich Sie gewesen wäre, hätte ich wenigstens 100 Euro aus der Geldbörse gezogen und sie dem armen Mann in die Hand gedrückt…
Da haben Sie leider sehr recht, Herr Caruso, da haben Sie sehr recht! Das habe ich mir später auch gedacht, manchmal fehlt es mir einfach an Ihrer Geistesgegenwart, die ich nicht umsonst so sehr bewundere.
Straubinger Tagblatt vom 7. Juni 2025