Er kann nicht mehr. Er kann nicht mehr weiter. Er hat getötet – in bester Absicht, aus politischen Gründen, weil er die Welt verbessern wollte. Und jetzt steht er vor dem Abgrund seines Handelns und weiß nicht mehr weiter.
Mit Danton hat Georg Büchner vor fast 200 Jahren in seinem Antikriegsdrama „Dantons Tod“ eine Figur erschaffen, die für jeden, der dieses Stück je gelesen hat, für immer unvergesslich bleibt. Der Revolutionär Danton hat getötet, gemordet – aus nachvollziehbaren politischen Motiven – und er kommt doch nicht darüber hinweg, auch wenn seine Freundin Julie ihn so tröstet: „Die Könige waren nur noch 40 Stunden von Paris … Die Republik war verloren. Du hast das Vaterland gerettet.“ Aber Danton hat nur eine resignative Antwort: „Wer hat das Muss gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“ Danton ist verloren, weil seine Seele mit den begangenen Taten nicht mehr leben kann und auch weil längst die nächste Welle der Revolution läuft, der er selbst zum Opfer fallen wird. Aber nicht einmal die Kraft, noch wegzulaufen, hat er am Ende, obwohl er doch weiß, welches Schicksal ihm jetzt blüht. Aber gerade in diesen Augenblicken, da er sein Leben in jeder Weise verliert, spricht er die weisesten Sätze, die bis heute in der Weltliteratur der Moderne nachklingen.
Seinem Gegner, dem so hochmoralischen Robespierre, der längst mit der Macht der Guillotine herrscht und auch ihn dem Henker zuführen wird, schreit er entgegen: „Mit deiner Tugend, Robespierre! Du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bei keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken. Robespierre, du bist empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen, 30 Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen andre schlechter zu finden als mich. Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst!“
Und Mercier, den Freund Dantons, lässt Büchner im blutigen Paris der 90er-Jahre des 18. Jahrhunderts die Sätze sagen: „Die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern, die Guillotine republikanisiert. Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“ Der Revolutionär als Schreibtischtäter, der über Leben und Tod herrscht, aber die Wirklichkeit seines Handelns längst nicht mehr spürt.
Wer in diesen Tagen lange aufbleibt, der kann in den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender nur staunend bemerken, mit welcher Leichtfertigkeit PolitikerInnen aus der zweiten Reihe, JournalistInnen und sogenannte ExpertInnen darüber diskutieren, mit welchen Waffen der Ukraine jetzt am besten gedient wäre. Da wird buchstäblich lachend – jedenfalls bei Markus Lanz – debattiert, welcher Panzertyp gebraucht werde und wie viel Stück davon am besten sofort geliefert werden sollten. Als ginge es um einen Kindergeburtstag oder ein Ostereierverstecken, das möglichst rasch begonnen werden müsse. „Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden“, möchte man dem Fernseher zurufen, wenn das nicht so sinnlos wäre.
An vorderster Front Toni Hofreiter, ein Mann, der noch nicht einmal im zweiten Anlauf für die Partei der Grünen ministrabel war. Jetzt rächt er sich, indem er sich in allen verfügbaren Medien zu Wort meldet und seine abstrusen Forderungen formuliert. Der Mann, der aussieht, als sei er gerade einem neuen Bändchen von „Asterix und Obelix“ entsprungen, ist doch schlimmer als eine Comicfigur. Rücksichtslos trommelt er für den Krieg.
Zu dritt waren sie in der Ukraine. Er, ein kaum bekannter SPD-Politiker und die unverbesserliche Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP. Ein Name fast wie ein Programm. Keine Talkshow, in der sie nicht ihre Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition, der sie doch eigentlich angehört, laut in die Mikrofone bläst. Panzer, so viele es geht, so schnell, wie es nur geht – und über Kanzler Olaf Scholz (SPD) nach dessen Rede letzte Woche: „Ich glaube, ich könnte Ihnen die Rede, die er hätte halten sollen, sofort aufschreiben.“ Na bravo! Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ urteilt in seiner Ausgabe dieser Woche: „Schwer kalkulierbar, schwer einzubinden, nur auf ihren eigenen Ruf bedacht – eine Egoshooterin, so sehen sie viele in der eigenen Partei.“ Am Ende das Resümee des Magazins: „Ihr Einsatz an der Öffentlichkeitsfront geht weiter.“
Überhaupt – die schmallippigen Frauen, die als sogenannte Expertinnen in den späten Abendstunden die Rationalität des Krieges erklären. Gegenbilder nicht nur zu jedem traditionellen Frauenbild, dem der Feminismus so vehement widersprochen hat, sondern eben auch zum Feminismus selbst, der doch die Würde und die Rechte der Frauen mit allem Nachdruck einfordert.
Und unser Kanzler? Muss das alles aushalten. Den Druck aus dem Ausland, das aus je verschiedenen Gründen schwere Waffenlieferungen in die Ukraine will. Den Profilneurotiker Friedrich Merz von der CDU, der rücksichtslos und plakativ seine Oppositionspolitik mit Blick auf Wahlen in den Ländern und sein eigenes Fortkommen durchzieht. Eigentlich ein vielfach Gescheiterter, aber jetzt wittert er seine Chance. Er wird wieder nicht gewinnen, aber lästig bleibt er.
Und natürlich die Widersetzlichen in der eigenen Koalition: echte Überzeugungstäter, Karrieristen und vielfache Mischverhältnisse davon. Dazu eine Medienwelt, die sich weitgehend selber gleichgeschaltet hat und in der allzu simplen Unterscheidung von Gut und Böse bereitwillig auf die Seite des scheinbar Guten gestellt hat. Als wäre dieser Krieg eine Auseinandersetzung zwischen Bruce Willis und Arnold Schwarzenegger und die Rollen von Gut und Böse klar verteilt. In der eigenen Partei gibt es noch echte Verbündete, die dieselbe Ahnung wie er vom Schrecken des Krieges haben, aber das ist es dann auch schon.
Zwei Dinge werden ihm vorgeworfen: dass er nicht handelt und dass er in seinem Sprechen zu abstrakt bleibt. Aber diese Zurückhaltung ist doch beileibe nicht die Resignation eines Dantons. In dieser Zurückhaltung, am Krieg noch intensiver teilzunehmen, liegt Haltung und Handlung. Und sein Sprechen, das doch mit jedem Satz beschreibt, dass es in diesem Krieg keine Antwort geben darf, die einfach und aus der Emotion heraus gegeben wird, erscheint mir als klug und sinnhaft. Vor allem auch die beständige Betonung, dass das Handeln der Bundesregierung bei jedem Schritt mit den Verbündeten abgesprochen wird. Ich finde, dass die Leistung des Kanzlers, der sich nicht provozieren und hinreißen lässt, der bedacht bleibt, der mit solchem Handeln versucht, Schaden von Deutschland und Europa abzuhalten, bewunderungswürdig ist!
Straubinger Tagblatt vom 30. April 2022