Jürgen Habermas schaltet sich in die Ukraine-Debatte ein

In einem großen zweiseitigen Text in der „Süddeutschen Zeitung“ hat am 29. April 2022 der Philosoph Jürgen Habermas zum Krieg in der Ukraine Stellung genommen. Jürgen Habermas gilt parteiübergreifend als in humanistischem Sinn ausgleichender Anwalt des Lebens und genießt sowohl in der Wissenschaft als auch in allen gesellschaftlichen Gruppen höchsten Respekt.

Er schreibt: „Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten.“ Habermas verteidigt dagegen die „Risikoschwelle“ der Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD), „die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine“ ausschließe.

Der Philosoph weist zudem auf das Problem hin, dass es am Ende nur Wladimir Putin sei, der entscheide, wann er das Engagement der westlichen Alliierten als Kriegseintritt deute: „Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.“

Krieg so schnell wie möglich beilegen

Kritisch fragt Habermas auch nach, ob es nicht „ein frommer Selbstbetrug“ sei, „auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen. Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt.“

Offenkundig erschrocken nimmt Habermas auch zur Kenntnis, wie sehr sich das Bewusstsein unserer Gesellschaft, „dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne ,gewonnen‘ werden können“, heute eingetauscht werde gegen ein moralisches Bewusstsein, das den Krieg gegen den Aggressor unbedingt gewinnen wolle. Der Philosoph argumentiert dagegen für die Beibehaltung unserer traditionellen „postheroischen Mentalität“, wie er es nennt: „Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss: ,Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen‘“, zitiert Habermas am Ende den Intellektuellen und Filmemacher Alexander Kluge.

Straubinger Tagblatt vom 30. April 2022