Ob die Geschichte der Menschheit einen Sinn hat oder doch eher nicht, ob vieles vorherbestimmt ist oder nicht; wie viel Freiheit angesichts eines auch vorfestgelegten Schicksals der Mensch überhaupt hat, darüber haben Philosophen aller Jahrhunderte immer wieder nachgedacht. Gibt es eine Entwicklung zum Guten? Warum dann immer wieder all die schlimmen Rückschläge? Und wenn die Welt schlecht ist und schlecht bleibt, warum dann überhaupt arbeiten für eine bessere Welt?
Im Geschichtskonzept des deutschen Idealismus von Friedrich von Schiller bis hin zu Friedrich Hegel gibt es darauf eine ganz einfache, aber auch hochproblematische Antwort. Die Menschheitsgeschichte sei schon eine Aufwärtsbewegung zum Ideal, weil die in der Geschichte innewohnende Vernunft sich über die Gegensätze von Gut und Böse in die richtige Richtung bewege. Die Schattenseiten des Bösen seien notwendig, weil nur so in der Dynamik des Widerspruchs zwischen Licht und Schatten die Geschichte an ihr gutes Ziel kommen könne. Das ist mit Recht immer wieder kritisiert worden. Denn wenn das notwendig so ist, wie Schiller oder Hegel das postulieren, dann sind das Böse, der Absturz, der Rückschritt in der Menschheitsgeschichte immer schon gerechtfertigt, weil sie ja notwendig sind, damit die Vernunft die Geschichte zu ihrem guten Ende bringen kann. Dann gibt es gute Gründe, dass es einen Hitler gibt, einen Stalin oder auch all die anderen Bösewichte der Weltgeschichte.
Den entscheidenden Widerspruch gegen ein solches auch typisch deutsches Geschichtsverständnis hat die christliche Philosophie eingelegt. Von ihr kommt der Begriff der sogenannten „Heilsgeschichte“. Dieser Begriff meint, dass mit der Menschwerdung Jesu Christi eine Beziehung zwischen Gott und der Welt gestiftet worden sei, die diese ganze Schöpfung schon jetzt auf eine andere, bessere Ebene stellen würde. Damals sei der Durchgriff des Ewigen ins Zeitliche, also in diese Welt, geöffnet worden. Schon jetzt. Schon heute. In jeder Zeit. In jedem Augenblick. In diesem Augenblick.
Schon diese Welt stünde durch Jesu Leben und Sterben im Horizont ewigen Heils, und auch wenn es immer wieder Rückschläge gebe, sei es Aufgabe der Menschen, immer wieder neu aufzustehen und für ein Leben in Würde schon in dieser Welt zu arbeiten. Als Ärzte, als Priester, als Lehrer, als Philosophen. Gott kümmere sich auch heute um seine Welt. Das Ewige sei nicht das, was eben später käme, sondern greife schon heute in diese Welt immer wieder auch ein. Trotz aller Rückschläge. Gerade in allen Rückschlägen. Von daher verbiete sich auch jeder Zynismus oder auch die Mutlosigkeit, mit der viele all die Rückschläge quittieren, die täglich in der Zeitung stehen.
Es ist das „Prinzip Hoffnung“, das die Philosophie mit dem Glauben teilt und von dem her ein bekannter Philosoph sogar die Überschrift seines ermutigenden Werkes herleitet. Überhaupt haben so manche Philosophen oder auch Schriftsteller, die mitten im Leben eher den Materialismus oder sogar den Nihilismus gerne pflegten, gegen Ende des Lebens im Prinzip Hoffnung doch noch den Anker auch des eigenen Lebens gesehen. Max Horkheimer etwa, der bekannte Philosoph, oder auch Alfred Döblin, der am Ende seines Lebens zum Christsein bekehrte geniale Schriftsteller.
Thomas Gottschalk hat sich im Fernsehen einmal mit dem geistreichen Theologen Hans Küng getroffen. Von ihren völlig unterschiedlichen Lebenspositionen heraus diskutierten sie eine Stunde lang die Frage, ob und warum es Gott gebe. Besonders lustig war, als Thomas Gottschalk sagte, er wünsche sich einfach einmal einen ganz einfachen Gottesbeweis, zum Beispiel, dass er sage: Gott, wenn Du jetzt die Nachttischlampe ausmachst, dann weiß ich, dass es Dich gibt. Herzig.
Aber eine ganz einfache Antwort, was Glaube und Religion denn seien, gibt es dann doch auch und der Theologe Johann Baptist Metz hat sie exakt auf den Punkt gebracht. Glaube sei „Unterbrechung“. Nicht einfach immer weitermachen. Bedenkenlos, vom Glücks- und Vergnügungsstreben bis zur Besinnungslosigkeit betäubt. Sondern eben innehalten. Die Pause zulassen. Denn der Glaube ist ja keine aktive Tat, wie der moderne Mensch so gerne denkt, sondern Geschehen, das aber nur kommen kann, wo einer innehält.
Jetzt ist also seit zwei Wochen Pause. Für alle. Die Schöpfung atmet auf und durch. Klimaziele werden plötzlich wie von selbst erreicht. Die Luft ist gut und klar und Zeit gibt es auch wieder. Zum Lesen, zum Musikhören, zum Gespräch, für die Familie. Das Leben fühlt sich an wie ein Ausflug in die Kindheit. Dasselbe Tempo, keine Termine, Freiheit. Was für ein Geschenk. Zeit zur Besinnung. Ist es das alles wert? Diese ganze Beschleunigung des Tempos, damit die Weltmärkte florieren. Das Diktat des beständigen Wettbewerbs. Und jetzt fehlen die Dinge, die wir schon längst die Chinesen machen lassen.
„Globalisierung gestalten“ – „Digitalisierung in allen Bereichen“ – die Schlagwörter von gestern stoßen einem jetzt auf wie schlechter Rotwein. Für jedes Krankenhaus auf dem Land, das wir dann doch nicht geschlossen haben, sind wir jetzt dankbar und auch für jeden Landarzt, den es dann doch noch gibt und der sich kümmert.
Und es zeigt sich auch, wie fähig wir sind, uns schnell besser zu organisieren und zu handeln, wenn es um unser Wohl geht. Warum nicht auch für andere? Könnten wir denn nicht auch so klug und aktiv sein, wenn es um Afrika geht? Da sind seit der großen Krise 2015 schon wieder fünf Jahre ins Land gegangen und wir haben gesagt: Es geht jetzt wieder gut, an den Grenzen stehen kaum mehr welche. Bis vor ein paar Wochen, weil der Hunger dort eben derselbe geblieben ist.
Wir werden diese Krise überstehen. Wir werden die Probleme lösen. In drei Monaten, in einem halben Jahr, in absehbarer Zeit. Aber werden wir – und das ist doch die viel wichtigere Frage – für unsere Zukunft die richtigen Folgen daraus ziehen? Dass wir unseren Kosmos zugrunde richten, wenn wir so weitermachen, dass dieses Coronavirus nur ein milder Vorgeschmack für die Krisen war, in die wir so unsere Kinder und Enkelkinder stürzen. Die das dann in regelmäßigen Abständen erleben müssen, eher wehrlos, so wie die Menschen in Afrika jetzt, die sich gegen die Heuschrecken nicht wehren können.
Es ist schon gut, wie die Politiker jetzt als Krisenmanager ihre Leistung bringen, der tapfere Markus Söder allen voran. Aber entscheidend ist doch, dass wir danach unseren Weg ändern, nachhaltig, dauerhaft, bewusst. Dass wir diese Krise nutzen und unsere Lehren wirklich ziehen. Nicht nach zwei Wochen alles vergessen haben und sagen: Die Karawane zieht weiter. Denn diese Krise ist für unser Bewusstsein eine Riesenchance. Gerade auch, weil sie so lange dauert und so massiv ist. Gerade noch wollten wir mit der Digitalisierung nach den Sternen greifen – und jetzt fehlt auf dem Scheißhaus das Klopapier!
Straubinger Tagblatt vom 28. März 2020