Den Arzt kannte ich. Wir waren eine Gruppe recht junger Männer und Frauen, die sich entschieden hatte, das Hilfswerk „Misereor“ zu unterstützen. Unternehmer, Ärzte, Manager. Etwas Gutes tun, Geld für Afrika und Lateinamerika sammeln, das Hilfswerk der katholischen Kirche unterstützen. Jedes Mal trafen wir uns woanders. Dieses Mal zeigte uns der stolze Klinikchef das Reich, das er erschaffen hatte. Eine wunderbare Privatklinik, wir tagten in einem hellen und lichten Nebenraum.
Als er die nächsten Male nicht mehr kam, fragte ich, wo er denn abgeblieben sei, und man sagte mir nur, er sei schwer an der Nervenkrankheit ALS erkrankt. Das ist die Krankheit, die den Physiker Stephen Hawking ein Leben lang an den Rollstuhl gefesselt hat.
Er drohte, zum stummen Gefangenen seines eigenen Körpers zu werden
Das Ende des ehrgeizigen Arztes stand in „Die Zeit“. In einem Interview erzählte der Arzt Uwe-Christian Arnold, der ein Leben lang Menschen zu sterben half, wie er dem Kollegen beim Freitod assistierte:
„Mein Kollege war schon eineinhalb Jahre nach der Diagnose fast bewegungsunfähig, konnte kaum schlucken oder sprechen. Spindeldürr saß er in einen Spezialpflegestuhl geschnallt, litt unter Erstickungskrämpfen. Als ich ihn zum ersten Mal besuchte, schaute er mich mit klaren Augen an, aber gab unverständliche Laute von sich, während ihm große Mengen von Speichel aus dem Mund liefen. Dieser Arzt drohte mit 61 Jahren bei vollem Bewusstsein seine Fähigkeit zu verlieren, sich nach außen verständlich zu machen. Mich brauchte er nur als Berater und Sicherheit, die Assistenz übernahm seine Frau. Trotz seines Zustandes starb er ruhig, im Kreis seiner Familie. Ich werde nie vergessen, wie erschütternd sein Bittbrief an mich war, mühsam mit nur einem Finger in den Computer getippt. Und ich vergesse auch nicht die Erleichterung in seinen Augen, am Ende, als er sicher war, nicht zum stummen Gefangenen seines gepeinigten Körpers zu werden.“
Das ist das Zeugnis eines glaubwürdigen Arztes, der sich ein Leben lang dafür einsetzte, Menschen in schlimmster Todesbedrängnis zu helfen. Das Interview, das die Wochenzeitung „Die Zeit“ vor wenigen Wochen abdruckte, gab er kurz vor seinem eigenen Freitod, den auch er wählte, weil er seine schwere Krebserkrankung nicht bis zum ganz bitteren Ende austragen wollte. Sein entscheidendes Argument für den assistierten Freitod ist, dass die Palliativmedizin nicht in allen Fällen so helfen könne, dass schmerzfreies und bewusstes Sterben möglich wäre. Zu viele Fälle habe er erlebt, wo Menschen über die Grenze des Unerträglichen hinaus geplagt gewesen wären. Er erzählt von einer jungen Frau, die am Ende nach einer Unterleibsoperation den eigenen Kot erbrach. Das ist schlimm. So half er ihr also am Ende.
Problematisch allerdings erscheint die Haltung des Arztes dort, wo ein Graubereich beginnt, der verstört. So kommentiert der Arzt den Fall des ehemaligen Intendanten des MDR, Udo Reiter, der sich das Leben nahm, als er im Rollstuhl saß: „Ich sage, es gibt ein Recht auf letzte Hilfe. Was ältere Rollstuhlfahrer betrifft: Mit zunehmendem Alter wächst die Gefahr, dass sie sich wundsitzen. Die offenen Wunden heilen schlecht und tun wahnsinnig weh. Man kann das behandeln, aber oft platzen die Wunden wieder auf. Wer das mehrfach durchhat, hat womöglich die Nase voll.“ Aber wo ist dann die Grenze? Ist hier die Palliativmedizin mit ihren Hospizen und ihrer ambulanten Betreuung auch schon am Ende? Ist das wirklich die Antwort, dass man da den Freitod wählt?
Interessanterweise gab der niederländische Professor Theo A. Boer in derselben Ausgabe von „Die Zeit“ ebenso ein Interview zum selben Thema. In ihm erklärte er, weshalb er von einem Befürworter aktiver Sterbehilfe zu einem Skeptiker und sogar Kritiker wurde. Als jahrelanges Mitglied in der niederländischen Prüfungskommission, die über die Rechtmäßigkeit von aktiver Sterbehilfe befand, habe er zu viele Fälle gesehen, bei denen aktive Sterbehilfe gar nicht angebracht war. Eine demenzkranke Frau erwachte trotz eines Beruhigungsmittels und wurde von einem Arzt unter Zwang gegen ihren Willen getötet. Oft gebe es Druck von Verwandten, dass das Familienmitglied aus den verschiedensten Gründen jetzt zu sterben habe. Aufgrund der liberalen Gesetze sei die Sterbehilfe in Holland heute eine der häufigsten Todesursachen. Der Professor urteilt deshalb: „Unser Konsumverhalten greift inzwischen auf das menschliche Leben über: Erhalten wollen wir nur noch, was autonom ist, genießen kann, etwas zur Wirtschaft beitragen kann und was gesund ist. Alles, was dem nicht entspricht, gerät in eine Gefahrenzone.“
Reinhold Iblacker brachte die Hospizbewegung nach Deutschland
Immer mehr Ärzte seien deshalb heute in Holland nicht mehr bereit, Sterbehilfe zu leisten. Deshalb gebe es in Holland jetzt die berüchtigten „Sterbekliniken“, wo man zum Sterben hinginge. Auch ein Geschäftsmodell. Er selbst würde zwar im Zweifel eventuell auch Sterbehilfe in Anspruch nehmen, aber: „Allerdings glaube ich, dass das bei dem heutigen Stand der Medizin höchst unwahrscheinlich ist, weil es nicht nötig sein wird. Heute weiß ich: Hätten wir in den Achtzigerjahren dasselbe hohe Niveau der Palliativmedizin wie heute in den Niederlanden gehabt, wären wir diesen Weg niemals gegangen.“
Und Professor Boer kritisiert am Ende die Entwicklung in Deutschland: „Wenn dort nun die Gerichte die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe begünstigen, ist das die völlig falsche Reihenfolge in der Rangordnung der Wichtigkeiten. Man sollte zunächst die Palliativmedizin auf das allerhöchste Niveau bringen, wie es in anderen Ländern bereits getan wurde.“
Vor 30 Jahren war ich eng mit dem Münchner Jesuitenpater Reinhold Iblacker befreundet, der nicht alt wurde. Er war von der Palliativmedizin zutiefst überzeugt und hatte mit einem Film die Hospizbewegung von Cicely Saunders von England nach Deutschland gebracht. Ein erstes Hospiz entstand damals in München, mittlerweile schreitet die Palliativmedizin immer weiter voran. Nachdem jetzt das Bundesverfassungsgericht die Beihilfe zum Suizid nicht mehr unter Strafe stellt, kann man zusammenfassend sagen, dass beide Wege am Lebensende möglich sind. Es bedarf also vor allem einer tiefgreifenden Bewusstseinsarbeit, aber auch der ausreichenden finanziellen Unterstützung von Hospizen und Palliativmedizin, so dass Menschen gerade am Lebensende spüren, dass sie auch jetzt wirklich geborgen sind.
Straubinger Tagblatt vom 4. April 2020