„Vox populi – Vox Rindvieh“, so hätte der langjährige politische Redakteur Fridolin Rüb, der vor zwei Jahren verstarb, die überraschend vielen Stimmen für Donald Trump bei der Präsidentenwahl in dieser Woche kommentiert. Dem des Lateinischen Unkundigen, der nach einer Übersetzung gefragt hätte, hätte er dann sicher geantwortet: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.“
Ganz gleich wie die Wahl in den USA am Ende ausgeht – es ist unendlich verstörend, dass nach diesen vier Jahren einer entsetzlichen Regierungszeit rund die Hälfte der Amerikaner unbelehrbar bleiben. Alleine 20 000 Lügen konnten Donald Trump die Medien nachweisen und seine Bemerkung, dass er auf den Straßen New Yorks einen Mord begehen könnte – und er käme davon damit, das spricht schon Bände, mit wem wir es hier zu tun haben.
Die Psychotherapeuten und Psychiater, die sich mit dem Phänomen Donald Trump beschäftigen, bestätigen unisono, dass ein Narziss wie er tatsächlich über keinerlei schlechtes Gewissen oder gar Schuldbewusstsein verfüge, auch wenn er in jedem Augenblick die Regeln und Gesetze der Mitmenschlichkeit mit Füßen trete. Das ist die eine Seite. Aber die Frage bleibt: Was ist mit all den Menschen, denen vier Jahre offenkundiger Machtmissbrauch nicht reichten, um eine andere und bessere Entscheidung zu treffen?
Auch hier darf man durchaus die Psychiater fragen, um ebenfalls eine kluge Antwort zu erhalten. Es sind die Angst und das Entwurzelt-Sein der vielen in der amerikanischen Gesellschaft, die sie nach einer politischen Lösung greifen lassen, die man im weitesten Sinn als „fundamentalistisch“ bezeichnen kann. Dazu kommt bei den Trump-Wählern auch die eigene narzisstische Freude, es denen da oben wieder einmal so richtig gezeigt zu haben. Dass der Narziss Trump für ihre echten Sorgen und Bedürfnisse gar kein Ohr hat und sie ihm von Herzen gleichgültig bleiben, das tritt vor diesem Hintergrund zurück gegenüber der vordergründigen Genugtuung, sich für all das, was sie als eigene narzisstische Kränkung erlebt haben, wenigstens für diesen einen Augenblick gerächt zu haben.
War der Kandidat der Demokraten Joe Biden wirklich eine so schlechte Wahl, wie manche politischen Beobachter meinen? Hätte man mit einer jüngeren und charismatischeren Persönlichkeit mehr erreicht? Fakt ist, dass all die scheinbaren Charismatiker der Demokraten, ganz gleich ob Mann oder Frau, in den Vorwahlen ausschieden. Die Demokraten hatten das Gefühl und das Gespür, mit einem Mann, der in der Mitte der Gesellschaft integer und durchaus bescheiden zu Hause ist, das Gegenmodell zu Trump gefunden zu haben. Ein liebevoller Familienvater, der nach dem Tod seiner ersten Frau und seiner geliebten Tochter die Politik schon an den berühmten Nagel hängen wollte.
Das ist eine Erzählung, die fasziniert und die man, wenn man etwas sorgfältiger hinhört, im Letzten viel wertvoller finden kann als die Geschichte vom Selfmade-Milliardär, der keine Steuern zahlt, wohl Schulden hat und das meiste vom eigenen Vater ererbt hat. Ein Showman, der im amerikanischen Fernsehen so rüde gegenüber Bewerbungskandidaten auftrat, im Widerstreit mit einem leisen und freundlichen Mann, der sich bemühte, mit Argumenten und nicht mit primitiven Pöbeleien zu überzeugen. Aber da war halt auch die andere Seite des Joe Biden: Das über Jahrzehnte seit seiner Kindheit fast vollständig abtrainierte Stottern ließ ihn in Stresssituationen sprachlich für einen Augenblick überfordert erscheinen, was die Gegenseite schnell nutzte, um ihn als vertrottelten alten Mann darzustellen, der schon Erinnerungslücken hätte. Und wenn Biden am Ende eines öffentlichen Auftritts von der Bühne eher stakste als lief, was war das für ein Unterschied zu Trump, der mit seiner ordinären Vitalität in jedem Augenblick suggerieren wollte – und es gelang ihm bei vielen allzu sehr –, dass er vor Kraft gerade wieder einmal kaum laufen könne.
Unvergessen die Bilder, wie der coronakranke Trump mit seinem Wagen einen Ausflug aus dem Krankenhaus heraus unternimmt, seinen Fans zuwinkt und auf diese Art signalisiert: Ich bin in jeder Situation Herr des Verfahrens – so unverantwortlich das gegenüber seiner unmittelbaren Umgebung auch war. Wer in Amerika längere Zeit gelebt hat, der weiß, wie sehr dort der Sieger, der Kraftvolle, der, der dominiert, gesellschaftlich in den Vordergrund gerückt wird. Während in unserer europäischen Kultur der Nachdenkliche, der Zögernde, sogar der Verlierer – etwa in der Literatur – eine Stimme hat, die zählt, so sind es in Amerika die „Winner“, die über die „Loser“ triumphieren. In den allabendlichen Ritualen des Profisports von Baseball bis Basketball, der in alle Wohnzimmer übertragen wird, wird das kulturell eingeübt und an den Universitäten des Landes den jungen Menschen eingetrichtert: Sei erfolgreich und geh deinen Weg – immer steil nach oben!
Der Religionswissenschaftler Michael von Brück schreibt in seinem gerade erschienenen Buch „Interkulturelles ökologisches Manifest“ als kulturellen Befund für unsere postmoderne Welt eine Analyse, die sich für ein Wahlverhalten, wie es die Trump-Wähler in Amerika gezeigt haben, exakt anwenden lässt: „Seit der Industrialisierung und Urbanisierung lebt ein Großteil der Menschheit in anonymen Gesellschaften, deren Zusammenspiel institutionell geregelt wird und ständiger Veränderung unterworfen ist. Die Beschleunigung aller Lebensbereiche, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, Anonymität in der Urbanität – all dies bewirkt das Gefühl von Heimatlosigkeit, Überforderung, Unsicherheit. So entsteht teils in bewusster Abkehr vom Ideal der Freiheit ein Ruf nach totalitär gestützten Systemen, die Sicherheit versprechen. Lethargie und Angst behindern kreatives Handeln. Es gibt genug Beispiele des Rückschritts in Barbarei, Totalitarismus und Armut.“
Vor all diesen Hintergrundinformationen wird am Ende das scheinbar Unverständliche, was in dieser Woche in den USA passiert ist, zwar nicht annehmbar, aber wenigstens verständlicher. Für uns in Deutschland, die wir die Erfahrung einer Regression in ein schreckliches totalitäres System in aller Bitterkeit schon gemacht haben, muss diese Wahl den Aufruf bedeuten, unseren Weg eines gelingenden demokratischen Rechtsstaats in einem vereinigten Europa mit aller Leidenschaft weiterzugehen und zu verteidigen. Während unserem Nachkriegsdeutschland die demokratischen Grundwerte nach dem Zweiten Weltkrieg von Amerika her neu eingestiftet wurden, ist die Situation heute eine andere und auch neue: Europa muss seine Rolle in einer globalisierten Welt von sich selbst her definieren und ausspielen. Europa ist das große Friedensprojekt, für das wir uns einsetzen müssen.
Straubinger Tagblatt vom 7. November 2020