Vor Kurzem schrieb mir ein bekannter Arzt und Philosoph aus der Schweiz, dass er glaube, Putin sei wahnsinnig geworden. Und ein nicht unbedeutender Psychiater bestätigte mir das in einem Telefonat: Er sei sicher, Putin leide unter einer akuten Psychose. Was bedeutet das?
In seinem Standardwerk „Glaube, Ideologie und Wahn. Das Ich zwischen Realität und Illusion“ hat der Münchner Psychiater und Psychotherapeut Werner Huth schon 1984 beschrieben, welchen Welt- und Wirklichkeitszerfall ein Mensch erlebt, der sich in einer Wahn-Wirklichkeit findet. Ein solcher Patient baue „in seinem Wahn nicht mehr auf die trotz aller konkreten Fragwürdigkeiten und Enttäuschungen dennoch tragende Beziehung zu den Mitmenschen und zum Geist, sondern nur noch auf die seiner irrealen Partizipation entsprechende Wahngewissheit“. Auf deutsch: Der Wahnsinnige lebt nur noch in seiner eigenen Welt. Indem er die wirkliche Welt verliert, bleibt ihm allein seine Wahn-Welt übrig. Werner Huth definiert den recht abstrakten Begriff des Wahns auf der Basis der leichter zugänglichen Begriffe des Narzissmus und der Ideologie. Der Narzisst entwertet die Welt, indem er nur noch sich selbst sieht, der Ideologe sehe scheinbar die Welt, die er aber in einem bestimmten, von ihm definierten und als sinnvoll verstandenen Sinn autoritär umgestalten wolle. Narzisstische und ideologische Motive seien sich, so Huth, im Innersten verwandt.
Die Bilder von Wladimir Putin als Narzissten haben wir alle vor Augen. Putin, der Eishockeystar, dessen Team mit 17 Toren gewinnt. Putin umkreist dabei Abwehrspieler, die offensichtlich zu Litfaßsäulen erstarrt sind und schießt zehn Tore selbst. Putin auf Bären- oder Krokodilsjagd, Putin zelebriert seinen nackten Oberkörper, all das ist Teil unseres kollektiven Erinnerns. Die Ideologie, für die er steht, ist allseits bekannt: Restauration alter russischer Größe, am besten im Zustand des ehemaligen Sowjet-Reichs. Auch hier ist der narzisstische Zug solchen Denkens klar erkennbar. Er verfestigt sich aber zudem in einer Ideologie, in der es nicht mehr um die Beziehung zum anderen Menschen geht, sondern um eine gewaltsame „Veränderung der äußeren Situation“, am Ende um „Macht“ (Werner Huth). Putins Narzissmus führt so in eine gewalttätige politische Ideologie, der sich für ihn die Welt zu unterwerfen hat.
Die wesentlichen Merkmale einer solchen Wahnsinnswelt sind schnell erzählt. Der andere Mensch wird entwertet und darf am Ende sogar getötet werden. Es gibt keine gemeinsame Wirklichkeit mehr mit den anderen Menschen, über die man sich miteinander sprachlich verständigen könnte. Der Narzisst und der Ideologe sind nicht mitleidsfähig, sie verlieren regelrecht die Beziehung zu sich selbst und zum anderen Menschen. Der ehemalige Box-Weltmeister Vitali Klitschko, heute Bürgermeister von Kiew, sagte am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz zu einem Redakteur dieses Verlags: „Ich habe in Putins Augen gesehen. Ich habe keine Seele mehr erkannt.“
Zusammenfassend schreibt Werner Huth über den Narzissten und Ideologen: „Im Grunde wird nur die eigene Person mit ihrem Körper, ihren Bedürfnissen, ihren Gefühlen, ihren Gedanken, ihrem Eigentum als real erlebt, während alles und jedes, was keinen Teil der eigenen Person bildet, zwar intellektuell aufgenommen wird, aber affektiv ohne Gewicht und Farbe bleibt.“ Was können wir in der Begegnung mit einem solchen Menschen tun? Regelrecht lächerlich ist es, wenn in den abendlichen Talkshows unsere Logik auf die Welt Putins angewandt wird. Wenn bis dahin völlig unbekannte Sicherheitsexperten es begrüßen, dass Kampfflugzeuge aus Polen über die USA von Deutschland aus in die Ukraine gebracht würden, damit Putin „die Grenzen aufgezeigt würden“. Auch das ist Wahnsinn! Einem hochaggressiven Menschen mit immer noch mehr Gewalt zu begegnen. Glücklicherweise war der amerikanische Präsident klüger und spürte, dass das eine unglaubliche Gefahr für einen Weltenbrand geworden wäre.
Es ist ein Dilemma: Auf der einen Seite muss es eine Reaktion aus unserer Welt geben, die für Putin erlebbar macht, dass es die wirkliche Welt wirklich gibt. Auf der anderen Seite laufen alle harten Maßnahmen, sogar die Wirtschaftssanktionen, Gefahr, von Putin so verstanden zu werden, dass er sich in seine Wirklichkeit von Gewalt und Wahn nochmals stärker hineinsteigert. Man muss verstehen, dass es für Putin in seinem Wahn und seinem Krieg keine echten Handlungsmöglichkeiten gibt, von denen her er in innerer Freiheit und Autonomie Entscheidungen treffen kann.
Aber auch die westliche Welt kann nicht wirklich handeln. Jede militärische Handlung macht einen Dritten Weltkrieg möglicher. Jede Wirtschaftssanktion führt beide Seiten in die Abgründe eines schlimmen Wohlstandsverlustes, der die breite Bevölkerung trifft und wird von Putin zudem als Aggression erlebt. Und jedes Nicht-Handeln ist doch ein Handeln, weil es dem Aggressor zu zeigen scheint, dass er tun kann, was er tun will.
Paradoxerweise liegt so der größte Handlungsspielraum fast schon bei den Politikern in der Ukraine. Sie können bei klarem Verstand entscheiden, wie sie mit der Aggression aus Russland umgehen. Ob da die beständige martialische Rhetorik des Präsidenten oder auch des ehemaligen Boxweltmeisters, die kämpfen wollen bis zum K.o., der richtige Weg sind? Ob es nicht doch besser wäre, deutlicher auf die Forderungen Russlands einzugehen, sie mögen noch so unberechtigt sein, um so viele Menschenleben zu retten wie möglich? Eine Sprache zu wählen, die der Aggression des Anderen nicht die eigene Aggression entgegenhält? Auch wenn die moralisch berechtigt ist. Ist es fair gegenüber den Ländern, die nach einem langen Friedensprozess in einem gemeinsamen Europa verbunden sind, sie mit immer neuen Forderungen nach noch mehr Waffen immer tiefer in den Konflikt dieser Brudervölker hineinzuziehen?
Therapeutisch gesehen hat Gerhard Schröder recht, dass er dem Freund Putin in dessen Wahn nicht von der Seite weicht und sich ansprechbar hält. Dass er dafür Geld nimmt, entwertet dieses Handeln aber ganz. Doch „das Abgeschnittensein von den Mitmenschen“ (Werner Huth) führt den Wahnsinnigen nicht zurück in die Gemeinschaft der Menschen, sondern „stabilisiert eher noch die Wahngewissheit“, weil sie „ihn noch mehr auf seine innere Welt zurückwirft“. Die Bundesregierung mit ihren Partnern in Frankreich und den USA geht mit dem Ukraine-Konflikt bisher gut um. Sie lässt sich vom Irrsinn der anderen Seite nicht provozieren, handelt bedacht und versucht immer wieder, Gesprächsangebote zu machen. Der Logik eines Wahnsinnigen eine gemeinsame Logik gegenüberzustellen, bleibt ein schwieriges Unterfangen.
Straubinger Tagblatt vom 12. März 2022