Ostern – Das ganz große Hilfsangebot

Als ich vor Jahren einem mir gut bekannten Philosophieprofessor aus der Schweiz erzählte, dass ich die Bücher seines Landsmanns Hans Küng, des berühmten Schweizer Theologen, gerne lesen würde, entfuhr es dem Freund entsetzt: „Er ist ein eitler Tropf!“ Sicher, das ist schon richtig, aber mit seinen Büchern verhält es sich wie mit einem guten Wein, der leicht korkt. Man kann ihn nicht wegschütten, weil er einfach zu gut schmeckt, und nimmt am Ende den leichten Korkgeschmack in Kauf.

Aber es hat ein anderes mit Hans Küng, das auffällt: Ostern ist ihm immer ein wenig fremd geblieben. Seine Bücher handeln eher von der Lehre Jesu, aus der Küng eine Ethik entwickelt. Das Ostergeschehen in seiner ungeheuren Brutalität nimmt der feine Schweizer Bürger lieber nur am Rande wahr. Und so geht es heute vielen Menschen. Weihnachten mit Geschenken und allen Strophen von „Stille Nacht, heilige Nacht“ ist schön und romantisch. Es erinnert an die eigene Kindheit, die Kirchen sind übervoll.

Ostern dagegen – viel schwerer zugänglich – und dann auch noch der Sprung in die Ewigkeit: Gräber öffnen sich und die Verstorbenen erscheinen den lebenden Menschen. Das klingt nach Märchen aus Tausendundeiner Nacht und ist für den Menschen von heute ein Wunder, das er eher nicht mehr glauben mag oder auch kann. So geht es aber vielen heute nicht nur mit Ostern, sondern mit der ganzen Geschichte rund um das Christentum. So schreibt ein bekannter Journalist in der „Süddeutschen Zeitung“ in dieser Woche, wie er sich bemüht, mit seinem Glauben in seinem Umfeld eher nicht mehr aufzufallen, um bloß keinen Unwillen und verständnisloses Kopfschütteln zu ernten. Fast eine Kapitulation.

Wenn uns heute die Psychologen sagen, dass es für Kinder, die in der überschnellen digitalisierten Welt aufwachsen, ungeheuer schwer ist, in die Rhythmen eines normalen Lese- und Sprachprozesses hineinzufinden, wie schwer ist es dann für eine moderne Gesellschaft, den langsamen Rhythmus der Evangelientexte auszuhalten? Jedes Wort, jedes Bild ist sorgsam ausgewählt. Es bedarf des Zuhörens, des Nachsinnens, der Zeit, die man sich nimmt, um aus der Alltagsgeschwindigkeit gerade herauszufinden. Und die Tragik der Texte, die von Menschen handeln, die in ihrem Schicksal ganz verloren sind und Jesus um Hilfe und Heilung bitten, sind das Gegenteil der künstlichen Intelligenz, die nach Algorithmen anonyme Texte verfasst, die zwar logisch sind, in denen es aber um nichts mehr geht.

In den Texten des Evangeliums dagegen wird das einzelne menschliche Leben verhandelt, das dort immer an einen Punkt gekommen ist, wo es nicht mehr weitergeht. Der junge Mann, dem das Leben des Bohemiens sinnlos geworden ist, Martha und Maria, die den Tod des Bruders beweinen, Menschen, die ins Unheil geraten sind und keinen Weg mehr heraus finden können.

Vor Kurzem zeigte das Bayerische Fernsehen in seiner Reihe „Lebenslinien“ die Geschichte eines Mannes, der an einen letzten Punkt gekommen war, an dem es für ihn überhaupt nicht mehr weiterging. Er erzählte: „Da sagte ich zu Jesus, Du musst jetzt in mein Leben kommen, ich weiß nicht wie, aber anders geht es für mich nicht mehr weiter.“ Heute arbeitet dieser Mann als Hundetherapeut, der noch die bösesten und gewalttätigsten Hunde mit seiner Aura bezwingt. Er ist glücklich verheiratet und die dunklen Tage liegen weit hinter ihm.

Letztlich verhandeln die Texte der Evangelien das Leben eines jeden Menschen. Von der Geburt Jesu, die stellvertretend für jeden Erdenbürger steht, der leben darf und leben will, bis hin zu seinem Tod. Und auch das Dazwischen ist ganz modern. „Nicht mehr Sklaven nenne ich euch, sondern Freunde“, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Wie viele Manager gibt es, die sich diesen Satz gegenüber ihren Mitarbeitern hinter die Ohren schreiben sollten, es aber genau nicht tun? Wie viele Professoren an den Universitäten, die ihre Assistenten am langen Arm verhungern lassen, Hauptsache, sie stehen selbst im Rampenlicht?

Die Evangelientexte sind allesamt durchwoben von einem Heilsaspekt, den kaum eine Zeit so dringend nötig hat wie diese. Die Abgründe des Bösen, der Verführung, der mögliche Selbstverlust des Menschen an die Gewalt, an die bloße Lust oder den reinen Egoismus, all das ist dort thematisiert. Und das nicht in einer moralischen Sprache, die den Zeigefinger hebt und so im Letzten zurückstößt, sondern als ein Geschick, das Mitleid erregt und eine Gegenwelt gerade für den schafft, der dort verloren scheint.

Heute tanzen die Menschen allzu oft auf den Oberflächen flüchtiger Glücksmomente durch ihr Leben und merken dann erst viel zu spät, wie sich tief in ihrem Inneren längst ein Gefühl der Sinnlosigkeit eingenistet hat. Dann schlägt die Stunde der Psychotherapeuten, die oft helfen können, manchmal aber auch nicht. Viele von ihnen sagen: Ohne eine spirituelle Wendung unserer Patienten weg aus einer rein diesseitigen Weltorientierung sind wir freilich machtlos.

Eine Fernsehdokumentation zeigte vor Kurzem das Schicksal einer alten Frau aus Bosnien. Sie lief über die Gräber von Srebrenica und zeigte die Gräber ihrer Verwandten. Ihres Bruders, ihres Ehemann, ihrer Söhne. Die Trauer in ihrem Gesicht war selbst im Fernsehen kaum auszuhalten. Sie erzählt, wie die Männer vor ihrem Sterben gefoltert wurden. Wie die Augen ausgestochen wurden und Nase und Ohren abgeschnitten. Da war das Sterben dann schon eine Erlösung.

Der junge Mann, den der Diktator aus Belarus auf dem Flug nach Polen vom Himmel holen ließ. Wenige Tage später wurde er im Fernsehen vorgeführt und trug deutliche Spuren der Folter. Im Krieg zwischen Russland und der Ukraine gibt es schlimme Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten, Folter aber ganz überwiegend aufseiten der Russen. Zu Hunderten, wahrscheinlich mittlerweile zu Tausenden. Da kann man kaum mehr sagen, dass das Ostergeschehen vor 2 000 Jahren nicht aktuell ist.

Die Welt von heute verdrängt den Aspekt des Bösen und des Mordens allzuleicht. Jeder Mensch ist in Gefahr, dass er selbst zum Mörder wird, so formuliert es ein bekannter Psychiater. Jeder trage den „Kain“ in sich, so sagt er. Nur wer das wisse und bedenke, habe die Chance, diesen Aspekt seiner Person so zu integrieren, dass am Ende nichts Böses geschieht. Der christliche Glaube ist das ganz große Hilfsangebot an jeden Menschen, aus der Welt des Bösen auszusteigen. Weil Jesus vor 2 000 Jahren seinen gewaltsamen Tod aus freiem Willen angenommen habe, sei für ihn der Durchgriff auf das Innere jedes einzelnen Menschen möglich geworden. So lehren das moderne Theologen heute. Das ist oft schwer zu glauben. Aber jedes Osterfest ist dann doch ein kleiner Schritt, dieses Unglaubliche etwas besser zu verstehen.

Straubinger Tagblatt vom 6. April 2023