Die Entscheidung für das Gute – Der Religionsphilosoph Eugen Biser mahnte, für den Frieden die Chance auf Verständigung zu nutzen – auch wenn es aussichtslos scheint

Es war auch etwas ganz Einfaches, was mich an meinem langjährigen Freund, dem Münchner Religionsphilosophen Eugen Biser, der im Jahr 2014 starb, so tief faszinierte: Er war noch während des Ersten Weltkriegs geboren! Wir sehen heute in verwackelten Schwarzweißbildern den deutschen Kaiser Wilhelm II. hoch zu Ross, oder auch den österreichischen Kaiser Franz-Joseph. Die grauenhaften Bilder aus den Schützengräben, als sich Deutsche und Franzosen monatelang gegenüberstanden, genauer: lagen. Im Westen nichts Neues hieß das Buch damals, das das so schrecklich beschrieb, wie es auch schrecklich war. Heute zeigt das Fernsehen gegen Mitternacht diese Bilder aus längst vergangenen Zeiten, die für uns nur noch Geschichte sind. Das aber war im Januar 1918 die Geburtsstunde meines Freundes. Hindenburg, Ludendorff, Brüning oder Rosa von Luxemburg, das waren die Figuren, die das Bewusstsein seiner Kindheit und Jugend prägten.

Noch wirkte das 19. Jahrhundert nach, als der Landjunker Otto von Bismarck für den Königs- und Kaiseradel des Landes die Demokratie erstickte und Deutschland 1871 nach drei Kriegen nicht von den Bürgern des Landes, sondern von den Mächtigen gegründet wurde. Und dann führen ein paar Jahrzehnte später die europäischen Monarchien, die auch noch miteinander verschwistert und verschwägert sind, Krieg. Leichtfertig. Auf dem Rücken der Menschen. Vier lange Jahre lang!

Kein Wunder, dass die erste Demokratie in Deutschland nach dieser Vorgeschichte – vor allem des 19. Jahrhunderts – scheitert. Die Weimarer Republik zerrissen zwischen den radikalen Kräften von links und rechts. Mit Mühe hält sie gut 14 Jahre. Dann ist 1933 schon alles vorüber. Als junger Mann marschiert Eugen Biser auf dem Parteitagsgelände von Nürnberg direkt an Adolf Hitler vorbei. Zwangsverpflichtet. Seiner Mutter sagt er zu Hause: „Es wird Krieg geben. Ich habe in die Augen des Führers gesehen, er will den Krieg.“

Wenig später ist es so weit. Eugen Biser aber muss als Soldat nach Russland. Es ist schrecklich. Er wird schwer verwundet und von den Kameraden und Ärzten aufgegeben. Im Lazarett sagt ein Soldat zu ihm: „Komm, Kamerad, deine Stiefel, die unter dem Bett stehen, gefallen mir. Gib sie mir, du brauchst sie sowieso nicht mehr!“ Aber er wurde gesund und durfte nach Hause, ins zerstörte Deutschland.

Der Krieg aber und die instabilen politischen Verhältnisse, die ihn verursacht hatten, wurden zur Keimzelle seines Denkens als Philosoph. Nichts Grauenhafteres gebe es auf der Welt als den Krieg, und dagegen gelte es aufzustehen in jeder Zeit. „Von einem Krieg weiß man immer, wie er beginnt“, pflegte er regelmäßig zu sagen, „aber niemals, wie er ausgeht.“

Als alle Welt noch zustimmte, dass der kleine George W. Bush nach der Zerstörung der Türme in New York gegen Afghanistan zu Felde zog, weil anders die Zivilisation nicht zu retten sei, da mahnte Eugen Biser schon, dass das nicht gut gehen würde. Dass Deutschlands Interessen auch am Hindukusch verteidigt würden, wie es der damalige Verteidigungsminister Struck erzählte – ein Blödsinn, aber beim ersten Hören so eingängig, dass es doch viele glaubten. Das Ende Jahrzehnte später: Alles ist noch schlimmer geworden, der Krieg ein Rückschritt selbst für die Region dort. Die Soldaten aus unserem Land gestorben für nichts, auch wenn das nicht öffentlich zugegeben wurde.

Dann der Krieg im Irak: Keiner glaubte am Anfang, dass der amerikanische Präsident so wahnsinnig wäre, das wirklich zu tun, aber Biser durchschaute ihn von Anfang an und wusste, was in seinem Kopf und in seinem Herzen vorging. Das Ende: Tausende Tote auch auf amerikanischer Seite und ein vollkommen instabiler und zerstörter Irak, der im Bürgerkrieg versank. Und die USA? Wenn der kleine George W. Bush durch die amerikanischen Hospitäler lief, um die Kriegsversehrten zu besuchen, schloss er an deren Betten die Augen. Er wollte buchstäblich nicht ansehen, was er und genau er angerichtet hatte.

Biser und Kohl freuten sich, dass die Zeiten der Kriege in Europa vorbei waren

Dagegen Europa: Eugen Biser nannte es immer eine „Zitadelle des Friedens“. Seine Freunde führte er gerne in seine Heimat nach Baden, und dort hinauf zur Festungskirche von Breisach an der deutsch-französischen Grenze. In deren Mauern stecken bis heute die Kugeln aus den drei Kriegen der ehemaligen Erzfeinde Deutschland und Frankreich. 1870 der erste schlimme Krieg, den Frankreich verliert, 1945 endet der dritte und letzte zwischen den beiden Nationen. Von der befestigten Kirche blickt man hinunter auf den Rhein, der dort fließt. Damals umkämpfte Grenze, heute ein friedlicher Strom, auf dem die Schiffe ihre Bahnen ziehen. Immer am Sonntag telefonierte Eugen Biser mit seinem Freund Helmut Kohl, der auch aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet stammt – und sie freuten sich gemeinsam, dass die Zeiten der Kriege hier in Europa vorbei sind.

Aber die Abgründe des Krieges bestimmten nicht nur den persönlichen Erfahrungshorizont des Religionsphilosophen, sondern vor allem auch den innersten Kern seiner Philosophie. Er verstand, dass im Herzen jedes Menschen das Morden angelegt ist. Kein Mensch ist nur gut, das war Biser klar. Ganz im Gegenteil. Das Böse überwiege erst einmal. Dass ein Mensch nur durch die Entscheidung, nicht zu töten, nicht zu morden, nicht das Böse zu wählen, ein besserer Mensch wird als der, zu dem er immer auch fähig ist, das war die bedeutendste Innenansicht seiner Philosophie. Die größte Angst des Menschen, so pflegte er zu sagen, „dass der, den er heute als Freund auf seiner Seite erlebt, sich ändert und schon morgen zum erbitterten Feind wird.“

Kriege machten laut Biser die Entscheidung für das Gute unmöglich

Die Ambivalenz jedes Menschen, wie die Psychologie das nennt, das war das große Thema seines Denkens. Die Steigerungsspiralen von Angst und Aggression. Diesen Mechanismus hatte er zutiefst verstanden. Das galt bei ihm für private Beziehungen, aber eben auch für das Verhältnis von Völkern. Und Kriege, so mahnte er, machten die Entscheidung für das Gute unmöglich. Hier würde der Andere grundsätzlich als Feind definiert und erlebt. Die Eigengesetzlichkeit von Kriegen verstand Biser, weil er sie selber am eigenen Leib erfahren hatte. Der Krieg hole das Schlimmste und Schrecklichste aus jedem Menschen heraus. Das sei die Natur des Krieges! Wer „Krieg und Frieden“ sage, der habe den Frieden schon verraten, denn der Frieden sei durchzuhalten.

Und sein Rezept für den Frieden? Sprache, Zuwendung zum Anderen, jeden Tag neu die Chance auf Verständigung suchen, auch wenn es aussichtslos scheine. Auf den Satz, dass bei Putin Diplomatie nicht funktioniere, weil der das nicht wolle, würde Biser heute antworten, dass genau dort Diplomatie beginne!

Und Gott? Eugen Biser war kein simpler Vertreter seines Fachs. Er wusste, dass der Mensch von sich her nicht nach Gott fragt. Seine Antwort darauf: Wo der Mensch sich selber mühe, da mische sich Gott von sich aus ein und hebe ihn auf ein neues und besseres Niveau. Wie ein Lichtstrahl aus dem Nichts, der aber plötzlich erfahren werde, ändere sich die Innenwelt des Menschen. Ein Zögern, ein Fragen, ein Zaudern, ein Innehalten, schon das könnte oft ausreichen, damit der Osterfrieden seinen Weg in die Herzen der Menschen zu finden beginne. Das aber könne auch die Geschichte von Völkern miteinander verändern.

Überraschung: Nicht der Mensch sucht Gott, sondern Gott den Menschen. So beginne Verwandlung, eine Verwandlung des Menschen. Angesprochen vom Guten, plötzlich fähiger, das Gute zu wollen oder es sogar zu tun. Auch zu hoffen, dass Gutes geschehen kann, selbst wenn die Gegenwart dunkel und düster erscheint.

Die Gegenwelt: beständige Kriegsrhetorik. Atemloser Kampf. Beschwörung von Siegen. Martialische Durchhalteparolen. Das Sterben von Müttern und Kindern, damit am Ende die Nation überlebt. Das Ausklammern von Friedenschancen, weil das mühsam ist und mehr als schmerzhafte Kompromisse verlangt. „Einmal dem Läuten der Nachtglocke gefolgt“, wie Franz Kafka es schreibt, da ist es schwer, wieder innezuhalten. Naiv? Eugen Biser wurde von konservativen Theologen immer wieder vorgeworfen, dass seine Welt eines Vertrauens, das wachsen kann, unrealistisch sei. Nur seltsam – alles, was Eugen Biser in der realen Welt prognostizierte, erfüllte sich genauso.

Niemand käme auf die Idee, für das Elsass heute Pfeil und Bogen zu erheben

Deutschland und Frankreich heute? Freunde. Es bleiben die Kriegsdenkmäler aus drei schlimmen Kriegen, die an die schrecklichen Schicksale erinnern von Müttern, Vätern und Söhnen. Stein gewordenes Grauen. Dass es im Elsass heute zwei Kulturen gibt, ist eine Bereicherung. Dieses in drei Kriegen umkämpfte Gebiet: Niemand käme auf die Idee, dafür auch nur Pfeil und Bogen zu erheben.

Für den Frieden einzustehen, um ihn zu kämpfen – das ist lohnend. Sich nicht vereinnahmen zu lassen von der scheinbar so klaren Logik des Krieges, der am Ende schon gewonnen würde, man wisse nur noch nicht, wann – darum geht es in diesen Tagen. Das ist die Botschaft, die von Ostern bis heute nachwirken kann.

Straubinger Tagblatt vom 7. April 2023