Mut, besser zu unterscheiden – Trotz manch positiver Nachricht wäre es realistischer, darauf zu hoffen, 2023 werde nicht noch schlimmer als das vergangene Jahr. Ein Wunsch nach weniger Egoismus und mehr Gemeinwesen

Hoffentlich wird das neue Jahr besser als das alte“, so sprachen viele zum Neujahrsfest. „Hoffentlich wird das neue Jahr nicht noch schlimmer als das alte.“ Das klingt schon realistischer. Doch manches im abgelaufenen Jahr war mehr als positiv:

Es ist schwer vorstellbar, dass Donald Trump nach all dem, was jetzt gegen ihn auf dem Tisch liegt, nochmals amerikanischer Präsident werden kann. Und Brasilien – der Verführer Bolsonaro ist Geschichte. Sein alter und neuer Nachfolger will die Regenwälder wieder aufforsten und sich um die Menschen kümmern, für die der reiche Mann an der Spitze des Landes nicht einen Blick hatte. In der Ukraine hat es immerhin noch keine atomare Explosion gegeben, weder durch Waffen noch durch explodierende Kernkraftwerke. Und hier im eigenen Land gibt es eine Regierung, die zwar überhaupt nicht zusammenpasst, aber dennoch mit Fleiß, Seriosität und Hartnäckigkeit für eine lebenswerte Zukunft arbeitet.

Dagegen die Baustellen für das neue Jahr – fast überlebensgroß: Wo sind all die Menschen hin, die vor Corona noch mitgearbeitet haben? Die Fachkräfte, das Personal in der Gastronomie, Altenpfleger und Krankenschwestern? Wie vom Erdboden verschluckt. Überall mangelt es an Menschen, die sich einsetzen wollen für das Gemeinwesen. Die, die es tun, tun es mit Leidenschaft. Aber weil es zu wenige sind und zu wenige bleiben, leiden die, die noch mithelfen, an Überforderung. Viele geben auf, schlicht, weil sie nicht mehr können. Wer sich doch bewirbt, hat hohe Anforderungen. Vier-Tage-Woche, Life-Work-Balance statt Work-Life-Balance, viel Homeoffice, einer will nur mitarbeiten, wenn er seinen Wellensittich mit ins Büro bringen darf. Investiert wird weniger in die Gemeinschaft, sondern am ehesten in das eigene Leben. Richtig und nachvollziehbar, aber in dieser Radikalität für eine Gesellschaft, die den Mehrwert des Einstehens für den anderen doch braucht, ein Problem.

Naturkatastrophen? Es wird mehr geben. Die letzte Generation klebt sich dagegen fest. Ein Abenteurertum ganz eigener Art. Arrogant. Wer sich so verhält, unterstellt, dass die anderen nichts tun oder auch nichts wissen. Für die, die nach einem langen und erschöpfenden Arbeitstag nach Hause zu ihrer Familie fahren wollen, eine Provokation. Es geht nicht nur um den Krankenwagen, der auf dem rettenden Weg ins Krankenhaus aufgehalten wird. Für jeden Menschen, der sich mit seiner Leistung in das gesellschaftliche Ganze einbringt, ist solches Verhalten inakzeptabel. Die ökologische Katastrophe hat längst begonnen, das wissen alle. Aber die Wege, das zu verändern, sind mühsam. Politischer Alltag, der härtesten Stein bearbeitet. Zu unterstellen, dass weder politischer Wille noch politisches Bewusstsein ausreichend da sind, ist eine Frechheit.

Wer fernsieht, der bemerkt, dass bei den Öffentlich-Rechtlichen jetzt immer öfter schon vor der Sendung auf die sogenannte Mediathek verwiesen wird. Die jungen Menschen schauen nicht mehr analog fern. War es früher selbstverständlich, um 20 Uhr die Tagesschau anzuschauen, oder kurz danach „Wetten, dass..?“, so bewegen sich die Digital Natives heute ausschließlich in den sozialen Medien. TikTok heißt die Bühne, auf der sich das virtuelle Leben abspielt. Den Fernseher schaltet von den jungen Menschen niemand mehr an. Die Öffentlich-Rechtlichen reagieren. Alles, was produziert wird, landet im eigenen Daten-Topf, der in ein paar Jahren eine vergleichbare virtuelle Plattform sein soll. Das Problem: Alles ist immer gleichzeitig da. Die Zeit wird nicht mehr gegliedert. Für junge Menschen heute gibt es keinen Sonntag mehr und auch immer seltener ein Frühstück, bei dem man noch die Zeitung liest. Der Historiker Christopher Clark analysiert in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „der Spiegel“, dass junge Menschen nur mehr aus dem Augenblick heraus leben. Für viele ist immer jetzt. Mehr nicht.

Der berühmte Psychoanalytiker Erik Erikson hat das Leben des Menschen noch in acht Phasen unterteilt: Phasen in der Kindheit, in der Jugend, in der Midlife-Crisis und im Alter. Und Menschen haben sich auch intuitiv in diesen und an diesen Phasen orientiert. Es gab ein Bewusstsein vom eigenen Leben, von den Aufgaben, die es jetzt zu bewältigen gibt. Von der Schule bis in den Beruf, den man im besten Fall ein Leben lang ausübte. Jedenfalls bei vielen. Vom berühmten Urvertrauen der ersten Lebensjahre bis zum wohlwollenden Rückblick auf das eigene Leben vor dem Tod, wie Erikson das beschreibt.

Ein junger Student dagegen sagt nach einer Vorlesung über Vor- und Nachteile der Digitalisierung zu mir: „Wissen Sie, ich kann schon noch fühlen. Aber mein Therapeut und ich haben erkannt, dass ich nicht mehr verstehen kann, was ich fühle.“ Auf die Nachfrage, woher das komme: „Ich habe seit meiner Kindheit in den letzten zehn Jahren stundenlang auf dem Handy gespielt. Meine Eltern haben das zugelassen. Ich bin ihnen nicht böse, aber ich muss jetzt arbeiten, um zu verstehen, was in mir ist.“ Eine Kinderpsychologin sagt zu mir: „Die meisten Fälle, die wir in der Klinik betreuen, haben mit dem Übermaß von virtueller Realität zu tun. Wer hier gesund werden will, muss am Eingang erst einmal sein Handy abgeben.“

KI – Künstliche Intelligenz – ist dagegen das Zauberwort derer, die noch schneller eine noch schnellere Zukunft wollen. Alles soll programmierbar werden. Der Mensch als Computer, der Computer als besserer Mensch. Aber wer genau hinsieht, der spürt schon beim ersten Blick, dass das Bild doch nicht von Van Gogh ist und das Porträtbild des schönen Mädchens eine künstliche Kopfgeburt. Algorithmen statt Leben. Die Daten eines Computers können den Schachweltmeister schlagen. Am Krankenbett eines Sterbenden sind sie sinnlos. Letzten Endes ist die Aufregung um den Fortschritt bei KI doch nur die alte Diskussion, ob der Mensch Autonomie und Würde hat oder eine Ansammlung neuronaler Daten ist, wie sie in den Feuilletons vor gut zehn Jahren zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern geführt wurde. Ergebnis damals: Wenn Naturwissenschaft Aussagen über den Geist und die Seele des Menschen macht, wird sie unseriös. Technik bleibt Hilfe für den Menschen. Als Selbstzweck führt sie in Entfremdung und Seelenkälte.

Die Schere zwischen Reich und Arm wird auch in diesem Jahr nicht kleiner werden. Nicht in Deutschland und nicht auf der ganzen Welt. Jeden Tag lesen wir neu, wer der reichste Mann der Welt ist. Inhaber von Firmen mit Luxusgütern oder Abenteurer der digitalen Welt, die auch noch den Weltraum erobern wollen. Das kommentiert sich von selbst. In Afrika verhungern jede Minute mindestens drei Kinder, obwohl unsere Welt täglich das Eineinhalbfache von dem produziert, was es braucht, damit jeder satt wird. Internationale Organisationen wie Misereor oder die Welthungerhilfe helfen, so gut sie können. 95 Cent von jedem gespendeten Euro gehen in die Projekte vor Ort. Das ist mehr als achtbar. Aber Kriege auf der ganzen Welt bedeuten immer wieder Rückschläge für die Menschen, die sowieso kaum etwas haben. Man könnte den Mut verlieren und aufhören, mitarbeiten zu wollen an einer besseren Welt. Aber das wäre die allerschlechteste Lösung. Selbst Sisyphus hat seinen Stein jeden Tag neu auf den Gipfel des Berges gerollt. Und bei ihm gab es nun wirklich gar keinen Fortschritt.

Wünsche fürs Neue Jahr? Natürlich, dass Frieden wird. Aber vor allem auch: Besser zu unterscheiden! Digitalisierung ja. Aber dort, wo sie hingehört: in die Industrie, nicht in die menschlichen Beziehungen. Internet ja, aber nicht als Dauerschleife und als Ersatz für das eigene Leben, das so gar nicht mehr gelebt wird. Einstehen für den Umweltschutz ja. Aber bei aller Problematik mit Kopf und Herz, nicht mit Hysterie, auch wenn sie verständlich ist. Und ein neues Leitbild muss her: Computer können Autos bauen – und die Menschen, die dort keine Arbeit mehr finden, werden in den Altenheimen und Krankenhäusern doch längst gebraucht. Warum wird eigentlich in der Industrie besser gezahlt als in einem Altenheim? Den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen: Philosophie, Theater, Literatur, Musik. Freundschaften. Alles ist ja noch da. Und wird auch gebraucht. Wenn der Staat es nicht ausreichend fördern kann – es gibt auch viele Initiativen von Privatleuten. Stiftungen, Spenden, soziales Engagement.

Und im Fernsehen bitte weniger dieser sinnlosen Quizsendungen, die zusammenhangloses Wissen mit den immer gleichen Prominenten als Verblödungsindustrie aufbauen. Und weniger Krimis, die alle nach demselben Schema ablaufen. Ein Mord, viele Verdächtige, immer mehr Gewalt, am Ende Lösung und Entspannung beim Zuschauer. Geht’s nicht noch etwas billiger? Bleiben die Kochsendungen, jetzt eine Zeit lang ohne Schubeck: Vielleicht gelingt es in diesem Jahr doch, dass es aus dem Fernseher heraus endlich gut riecht. Das wäre doch mal ein echter Fortschritt!

Straubinger Tagblatt vom 6. Januar 2023