Missbrauch in der Kirche – auf dem hohen Sockel

Warum? Eigentlich unvorstellbar, dass über Jahrzehnte Hunderte von Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche vorfielen. Warum? Ich erinnere mich an einen sympathischen Jesuiten, der in den 1990er-Jahren in St. Michael zu München die Morgenmesse gerne mit folgenden Worten begann: „Zuerst wollen wir unsere Sünden bekennen …“ Dann machte er eine Pause und fügte mit eigenen Worten hinzu: „Wenn wir bedenken, wie wir in dieser Woche wieder waren …“

In diesem Bekenntnis drückt sich in einem einzigen Satz ein zeitgemäßes Verständnis von Religion und Theologie aus. „Wie wir wieder waren …“ Der kluge Jesuit stellt sich mit einem solchen Satz auf eine Ebene mit den Gläubigen, die vor ihm stehen und die Sonntagsmesse besuchen. Er verkleidet sich nicht als Autorität, die den Glauben buchstäblich für sich gepachtet hat, sondern er wird mit diesem Satz Teil der Gemeinde, der er so wirklich dient.

Der Münchner Religionsphilosoph Eugen Biser hat diese Wende vom Autoritätsglauben zu einem teilnehmenden Glaubensverständnis über Jahrzehnte immer wieder angemahnt. Von den konservativen Kardinälen und Bischöfen wurde er dafür gerne und durchaus lauthals verlacht. Für die war die Kirche heilig. Als Institution. Die große katholische Kirche mit dem heiligen Rom als Zentrum. Die Bischöfe und Kardinäle als machtvolle Hirten. Bei einem solchen Glaubensverständnis darf aber natürlich nichts schiefgehen. Da darf kein Makel auf das Licht eines solchen Kirchenverständnisses fallen. Und wenn doch – dann darf nichts nach außen dringen. Immer wieder wird diskutiert, inwieweit die für manche kaum auszuhaltende Strenge des Zölibats ein Grund für Fehlverhalten ist. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist das theologische Selbstverständnis, um das es geht. Wer sich auf den hohen Sockel einer unangreifbaren Autorität stellt, der wird kaum zulassen, dass Flecken auf dem Weiß seiner Weste sichtbar werden.

Heute können wir nicht mehr sagen, ob sich Papst Benedikt an eine Sitzung, die vor mehr als 40 Jahren stattfand, noch erinnert oder sie bewusst verleugnet. Aber was wir schon sagen können, ist, dass er bei seinem Besuch in Deutschland beim Abendvortrag in Freiburg im Breisgau, als der Missbrauchsskandal in aller Munde war, gerade einmal exakt einen halben Satz auf dieses Thema verwandte. Dass er bei seinem Besuch in den USA ausgewählte handverlesene Opfer zu einem kurzen Gespräch bat, die allermeisten Betroffenen aber enttäuscht weggingen.

Es durfte nicht sein, was nicht sein sollte. Heute ist der Schaden enorm groß. Das über Jahrzehnte verleugnete und verdrängte Kapitel des Missbrauchs zeigt sein entstelltes Gesicht.

Eugen Biser hat dem autoritären Glaubensverständnis den Begriff des therapeutischen Glaubens entgegengesetzt. Das Glaubensgeschehen findet unabhängig von jeder Kirche und jedem Dogma im einzelnen Menschen als Glaubenserfahrung statt.

Kirche muss als Gemeinschaft diesen Glauben bewahren und besprechen, soll ihn aber nicht dogmatisch verordnen. Deshalb lud er am Ende der Messe auch immer alle Geschiedenen, die im Glauben stünden, zur heiligen Kommunion ein. Ein konservativer Bischof kommentierte das so: „Dafür wird er sich vor Gott verantworten müssen.“ So lustig das für einen aufgeklärten Christen ist, am Ende ist es vor allem auch traurig.

Der Jesuit in München, der sich so verständnisvoll an die Seite der Gläubigen stellte, indem er seine eigenen Fehler offen mit ansprach, hatte am Ende für seine versammelten Schäfchen einen Trost: „Wenn wir uns so jede Woche neu bemühen, dann stellen wir doch fest, das Böse in uns wird über die Zeit weniger    …“ Auf einen solchen Glauben und auf ein solches Selbstverständnis von Bischöfen und Priestern wird die Welt kaum verzichten wollen. Und gegen das durchaus auch bösartige Kirchenbashing, das es gerade jetzt auch gibt, ist ein solches bescheidenes Selbstverständnis das einzige Mittel, das für das Christentum Zukunft verheißt.

Straubinger Tagblatt vom 25. Januar 2022