Menschen brauchen Rhythmen. Den Rhythmus von Tag und Nacht, von Freizeit und Arbeit, von Begegnung und dem Rückzug auf sich selbst. Johann Wolfgang von Goethe hat diese Dynamik des Wechsels mit der Arbeit des Herzens verglichen, mit dem Wechsel von Systole und Diastole. Nur wenn das Herz in dieser Dynamik aus Schlag und Entspannung arbeitet, bleibt es gesund. Der Sonntag als Tag der Ruhe, eingebettet in ein Wochenende, das am besten der Familie gehört. Dass es eine Ordnung geben muss, dass der Mensch in diese Ordnung kommen soll, das war jenseits seines genialen Schaffens eine durchgehende Maxime im Denken von Goethe. Der strenge Tagesablauf in den Klöstern der Benediktiner nimmt diese Regel der Ordnung seit Jahrhunderten in größter Strenge auf. Aufstehen vor Sonnenaufgang, die exakten Zeiten von Gebet und Arbeit über den ganzen Tag, am Ende ein wenig Zeit für sich selbst.
Über Jahrhunderte haben die Medien diese Ordnungsstruktur der Welt aufgenommen oder sogar unterstützt. Die sogenannte „Periodizität“ von Zeitungen war ein wesentliches Merkmal ihrer Gattung. Von Montag bis Samstag sind sie erschienen, gelesen beim Frühstück, manchmal noch am Abend, am Sonntag war Pause. Es gab Wochenzeitungen, Tageszeitungen und am Ende natürlich auch die Abendzeitungen, aber alles war eingebunden in den Rhythmus von Zeit und Ordnungsmustern, die man dieser Zeit zusprach, um sie zu gliedern und sich selbst mit Struktur zu stärken. Selbst im Fernsehen gab es nachts die große Pause und dass sich die Nation um 20 Uhr zur „Tagesschau“ versammelte, war fast ein ungeschriebenes Gesetz.
Was für ein Wandel in wenigen Jahrzehnten! Heute wird durchgefunkt. Aus einem Fernsehprogramm wurden erst zwei, dann mit dem Privatfernsehen ein paar mehr, mittlerweile sind es rund hundert Kanäle, die dem Nutzer auch nachts zur Verfügung stehen. Und die digitale Welt hat dann die Tür ganz aufgestoßen in die vollkommene Verfügbarkeit von Information rund um die Uhr.
Es ist aber noch etwas ganz anderes passiert, was die Kultur dieses Jahrtausends so fundamental verändert. Es gibt letztlich keinen zeitlichen Abstand mehr zu den Dingen, die medial angeboten werden. Das Internet ist die große Bühne des „live“, alles geschieht im Augenblick und zieht so die Aufmerksamkeit des Menschen exakt in das Hier und Jetzt. Die gerade wahrgenommene Welt ist jetzt genau meine Welt. Die Differenz von Welt und Medium wird verschwindend gering. Ist das gut so?
Zeitungen machen das auf jeden Fall anders. Sie blicken auf den letzten Tag zurück und versuchen zu begreifen, was gestern oder vorgestern wichtig war. Gelesen werden sie zwar im Augenblick der Lektüre, aber selbst da bleibt der Abstand des Lesers zum Papier, das ihn zwar anspricht und um Aufmerksamkeit bittet, aber ihm doch auch den Raum des eigenen Denkens und Reflektierens überlässt und ihm so die Möglichkeit eines ruhigen und gelassenen Perzeptionsprozesses eröffnet. Papier ist geduldig und der Leser wird es oft auch und es tut ihm recht gut.
Fragt man heute Menschen, die die Zeitung immer noch lieben, nach dem Unterschied zwischen einer Zeitung und der virtuellen Welt, dann sagen sie in der Regel den immer gleichen einfachen Satz: „Das ist etwas anderes.“ Und manche sagen sogar: „Das ist etwas ganz anderes!“ Das soll die Welt des Internets nicht verteufeln, aber es ist ein Hinweis darauf, dass es doch einen Unterschied macht, welches Medium ich nutze, auch wenn die angebotenen Informationen sogar dasselbe Thema behandeln.
Von Hirnforschern wissen wir, dass das Lesen ganz andere Areale des Hirns bedient als der Bildschirm oder das Handy, wo die Information vom Gehirn als Bild und nicht als Text wahrgenommen wird. Das Lesen hat so ganz andere psychische Implikationen als das Surfen im Netz, auch wenn am Ende beides der Information des Rezipienten dient. Von Büchern ganz zu schweigen, die natürlich nochmals tiefer gehen und für die Seele und den Geist am Ende unersetzlich bleiben.
Sigmund Freud hat den Menschen als „Prothesengott“ bezeichnet. Wie ein Gott wolle er sein, aber weil er es eben nicht sei, stehe er in seiner angemaßten Größe nur auf Prothesen, die ihn größer machten, als er es sei und als es ihm guttut. Allmacht und Allgegenwart sind zwei dieser göttlichen Attribute, die die virtuelle Welt aufnimmt. Gleichzeitig ist alles da und wird dem machtvollen Zugriff des Users ausgeliefert, der sich in der großen virtuellen Welt spielt und seine Zeit und am Ende sich selbst dort so gerne vergisst. Alles wird Gegenwart, bleibt Augenblick des Jetzt, im Netz ist immer jetzt und das Gestern und das Morgen liegen ununterscheidbar eingefroren vor lauter Taumel des scheinbaren Glücks im Augenblick, im Augenklick.
Dabei war der Mensch noch niemals so durchsichtig für die, die im Netz seine Daten sammeln und seine Persönlichkeit scannen, um ganz am Ende exakt seine Bedürfnisse als Konsument so zu befriedigen, dass Milliarden ihnen selbst zuwachsen, wo sie als die großen Spieler die neue Welt des Netzes beherrschen und an ihr so ungeheuer viel Geld verdienen. Da geht es dann wirklich um Macht und auch um die Frage: Was macht das mit unserer Freiheit und mit unserer Lebenswelt? Der wirklichen, nicht der im Netz. Nachzulesen schon bei Aldous Huxley oder George Orwell.
Ein Gespräch. Ein gutes Gespräch. Ein Geschenk. Sich selbst und den anderen in einem Gespräch spüren zu können. Ganz analog. Psychotherapeuten nehmen dafür 120 Euro in der Stunde – und der Bedarf wird immer größer.
Ein Schweigen. Das nicht leer bleibt, sondern fruchtbar wird zwischen zwei Menschen, die es teilen und spüren, dass es sie gibt.
Eine Stunde in der Schule oder an einer Universität. Wo plötzlich ein Raum entsteht, dass ein junger Mensch wachsen kann hin zu sich selbst. Jenseits von Prüfungen und Drill. Was braucht man denn später schon im Leben von all dem Zeug, das die Lehrpläne den Lehrern und Schülern eintrichtern wollen. Algorithmen der Unterwerfung, die der digitalen Welt recht ähnlich sind.
Erinnert wird doch später die Nachdenklichkeit des Deutschlehrers, wenn es in der Literatur um die großen Fragen von Tod oder Liebe geht. Oder auch um Rebellion gegen Systeme, die Menschen nur gefügig machen wollen. Oder auch, dass der Religionslehrer wirklich fromm und brav war – vielleicht gibt es ja doch eine Welt jenseits dessen, was wir sehen und betasten können.
Die digitale Welt hat uns große Vorzüge gebracht. Aber wir dürfen die Geistes- und Seelenkultur, die gerade dieses Europa so tief prägt, nicht aus den Augen verlieren. Das ist Auftrag für die, die Zugang zu beiden Welten haben.
Straubinger Tagblatt vom 31. Juli 2021