Bundestagswahl: Wo bleibt Hansi Flick?

Fast vergessen ist heute einer der ersten Rücktritte, die es gab, weil da einer schlampig gearbeitet hatte. Es war das Jahr 1985, als der Chef der Feuilleton-Redaktion der Wochenzeitung „Die Zeit“, Fritz J. Raddatz, in einem Text Zitate von Johann Wolfgang von Goethe verwendete, die er offensichtlich nicht bei Goethe, sondern in der „Neuen Zürcher Zeitung“ gefunden hatte. Das Ganze kam deshalb auf, weil in der Glosse, die er zitierte, der Frankfurter Bahnhof vorkam, den es aber erst nach Goethes Tod gab. Da war es dann ein Leichtes, dem renommierten Literaturkritiker nachzuweisen, wo er abgeschrieben hatte. Der Aufschrei unter den Kollegen war laut, der Meister musste vom Chefposten zurücktreten und blieb der Zeitung nur mehr als Autor erhalten. Eigentlich ein recht lustiger Vorfall, aber Humor ist für viele in diesem Land immer noch ein Fremdwort.

Bei Karl-Theodor zu Guttenberg war’s verständlich, dass er gehen musste. Da kam einer, der den Messias spielte. Mit Halbsätzen wie „Ich möchte das auch und gerade hier und jetzt sagen“ begeisterte er sein erwartungsvolles Publikum, das nicht bemerkte, dass gar nichts gesagt wurde. Alles blieb Geste und Andeutung, erwartungsvoll war vor allem der Redner selbst, der den nächsten Schritt auf seiner Karriereleiter plante und ganz genau hinsah, wo der denn kommen könnte. Als er seinen Rücktritt bekannt gab, filmten die Fernsehkameras die Freundinnen Angela Merkel und Annette Schavan, denen es vor lauter Schadenfreude die Mundwinkel verriss. Der Rest ist bekannt.

Schavan, deren Reden immer so salbungsvoll über die Zuhörer hinwegwaberten, hatte selber auch abgeschrieben und muss jetzt seit 2014 ohne Doktorgrad durch die Welt fliegen. Immerhin führte sie einer dieser Flüge, den Merkel vom Kanzleramt aus klug steuerte, ganz schnell für die nächsten vier Jahre als Diplomatin zum Papst nach Rom, wo es bekanntlich warm ist und die Sonne so heiter scheint.

Mittlerweile ist es ein Spiel geworden, Akademikern oder auch Buchautoren auf die Schliche zu kommen, bei wem sie abgeschrieben hätten. Will man einer von denen sein, die sich auf die Jagd machen, oft sogar für Geld von interessierter Seite, den politischen Gegner auf diese Weise unschädlich zu machen? Doch auf keinen Fall!

Und so ist es gut, dass der hochintellektuelle Literaturkritiker der „Süddeutschen Zeitung“, Gustav Seibt, vor wenigen Tagen das Jagdfieber, das rund um eine umfangreichere Werbebroschüre der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock entstanden ist, in einen größeren historischen, aber auch thematischen Zusammenhang stellt. So vergleicht er die Verurteilung oder auch Vorverurteilung der diskreditierten Autorin mit dem Scherbengericht der athenischen Demokratie, dem Ostrazismus, wo „ohne Anklage, sogar ohne Aussprache (…) eine Art negative Meinungsumfrage“ gestartet wurde, weil da jemand zu mächtig geworden war. „Seit es soziale Medien gibt, braucht es für Ostrazismen, Denunziationen (…) keine Volksversammlungen, Ämter oder Gerichte mehr (…) Hier tagt die Volksversammlung oder der Wohlfahrtsausschuss – das berüchtigte, während des Terrors von 1793 für die revolutionäre Gerechtigkeit zuständige Organ in Paris – rund um die Uhr.“ Seibts zutreffendes Urteil: „Nicht einmal die archaische Ethik des Schulhofs – wenn jemand am Boden liegt, sollte man aufhören, zu treten – schützt heute noch. Der Selbstgenuss der Moralischen scheint eine unwiderstehliche Droge zu sein.“

Vor Kurzem machte mich ein honoriger Professor mit großem Ernst darauf aufmerksam, dass noch viel schlimmer, als ein paar bedeutungslose Zitate aus fremder Quelle in ein Werbebuch einzufügen, Armin Laschets Notenerfindung als Honorarprofessor gewesen sei, als der nach verlorener Klausur vor ein paar Jahren die Noten schlicht frei erfand – am Ende kam’s raus, weil es einfach zu viele Noten für zu wenige StudentInnen waren. Aber auch das qualifiziert den Kanzlerkandidaten der CDU als Politiker doch nicht wirklich ab. Es waren sicher gute Noten, die er als nebenher lehrender, zerstreuter und den StudentInnen bekanntermaßen gewogener Politiker erfand, noch dazu in einem Fach, wo man sich nicht für die Arbeit im Operationssaal der Chirurgie qualifizieren musste. Etwas italienische Gelassenheit bitte!

Entscheidend ist doch etwas ganz anderes. In drei Monaten wird gewählt. Jetzt sind erst einmal Sommerferien. Da wird es nicht viel an echter politischer Auseinandersetzung geben. Und so wird der Blick auch nicht mehr geschärft dafür, welch gravierende Entscheidungen die nächsten vier Jahre einfordern werden. Und es ist auch noch regelrecht Programm von Laschet, die Radikalität der Fragen, die es zu beantworten gilt, nicht anzusprechen. So schreibt „Der Spiegel“ diese Woche in seinem Leitartikel: Von Laschet „weiß man auch, dass er über die Gabe verfügt, einen Wahlkampf mit größtmöglicher Teilnahmslosigkeit zu begleiten. Nach dem Rezept von Angela Merkel: Wer sich am energischsten wegduckt, vor allem inhaltlich, gewinnt.“

Eine narkotisierte Wählerschaft also, der so vorgegaukelt wird, dass alles gar nicht so schlimm ist. Nicht die Überschwemmungen bei uns und auch nicht 50 Grad Celsius in Kanada. Zu befürchten ist, dass dieser Wahlkampfstil auch Regierungsstil wird. Denn für viele ist Bequemlichkeit immer noch die wichtigste aller Tugenden. Die Hauptsache, dass sich nichts ändert und nichts wehtut. Schrecklich!

Die andere Seite: Keiner der drei KandidatInnen überzeugt doch wirklich. Nicht Laschet, bei dem einen regelmäßig das Gefühl überkommt, dass er gerade der Ära von Rainer Barzel in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entsprungen ist, nicht Olaf Scholz, der seinen Spitznamen „Scholzomat“ nicht ohne Grund trägt, und auch nicht die Kandidatin der Grünen, die sich also selbst für so klein hält, dass sie sich partout größer machen muss, als sie es ist. Als wäre Kleinheit ein Makel. Ist es doch gar nicht!

Dabei ist das Ganze am Ende doch spannend. In ihrer Verzweiflung wählen jetzt viele die FDP – und das wird noch mehr werden. Gründe gibt es dafür zwar keine, aber auch das ist ja schon interessant. Und die FDP muss jetzt regieren wollen nach dem Desaster von vor vier Jahren, ganz gleich in welcher Konstellation. Und wenn’s dann zwischen Union und Grünen warum auch immer nicht klappt, könnte es auch für die sogenannte Ampel reichen, also ein Bündnis aus Grünen, SPD und FDP. Da spielen dann die Programme und all das, was im Wahlkampf vorher erzählt wurde, keine Rolle mehr. Es wird schon noch ganz interessant.

Jogi Löw, die Angela Merkel des deutschen Fußballs, geht in den Ruhestand. Gut so. Mit Hansi Flick steht ein Nachfolger bereit, dem Vieles und Gutes zuzutrauen ist. Wo bleibt der Hansi Flick der Politik?

Straubinger Tagblatt vom 10. Juli 2021