Robert Seethaler schildert in seinem lesenswerten Roman Gustav Mahlers letzte Reise
„Der letzte Satz“, so heißt der neue, recht kurze Roman des österreichischen Erfolgsschriftstellers Robert Seethaler. Doppeldeutig ist dieser Titel, denn der Komponist Gustav Mahler sitzt auf einem Schiff von New York nach Europa und weiß, dass sein Leben zu Ende geschrieben ist. Der letzte Satz seiner Musik ist vollendet, und Gustav Mahler spürt auf dem Schiff nochmals seinem Leben nach, das jetzt verklingt.
Wieder einmal wird beim Lesen dieses kleinen Textes klar, warum die Leserinnen und Leser Seethalers Texte so lieben. Wenn er ein Schiff beschreibt, sitzt man mit ihm auf dem Schiff. Wenn er das Meer beschreibt, spürt man das Meer – und wenn er von der Liebe erzählt, spürt man die Liebe.
Seethaler ist begnadet, mit jedem Satz vom Leben zu erzählen – und zwar vom Leben in der ganzen Tiefe seiner Möglichkeiten. Aber am Ende liest es sich bei diesem Autor auch so ganz einfach: „Nichts war zu sehen außer dem Tang, der in schlierigen Inseln an der Oberfläche schwamm, und einem überaus merkwürdigen Schimmern am Horizont, das aber, wie ihm der Kapitän versichert hatte, absolut nichts bedeutete. Er saß auf einer Kiste aus Stahl, mit dem Rücken an die Wand eines Deckcontainers gelehnt, und spürte das dumpfe, gleichmäßige Hämmern der Schiffsmotoren unter sich.“
Solche ruhigen Sätze machen es dem Leser leicht, sich in den Text einzufinden und zum Begleiter des vom Leben müde gewordenen Komponisten zu werden. Mit ihm den Schmerz zu fühlen über die eine zu früh gestorbene Tochter, die Liebe zur noch verbliebenen anderen. Mit ihm zu spüren, wie tief, ja abgöttisch er seine Frau Alma liebt und auch den Schmerz, als sie ihn mit einem anderen Mann betrügt.
In jeder Zeile, die Seethaler schreibt, ist das Leben ganz da. Der Erfolg in Wien als Dirigent und Operndirektor, die Aufmerksamkeit all der Menschen dort, die ihn überfordert und vor der er flüchtet, wo er nur kann. Die Widrigkeiten, die Streitigkeiten, das Los eines genialen Künstlers, von dem der Text sagt: „Und was sollte man davon halten, dass einer einfach so daherkommt und Beethovens Neunte retuschiert? Dass ein Jud das größte deutsche Musikwerk zusammenstreicht und überpinselt, nur weil es ihm gerade passt?“ Seethaler setzt seine Figur historisch vollkommen wahrheitsgetreu in Szene. Aber das bleibt nur der stabile Erzählrahmen, innerhalb dessen der Autor dann seine gewohnten Tugenden so souverän ausspielt.
Das Erzählen vom Leben, vom Schmerz, von der Trauer, von der Liebe – und am Ende von der Not sterben zu müssen. Es mag schon sein, dass auch dieser Text Seethalers für manchen Literaturkritiker wieder einmal nicht artifiziell genug ist. Aber für alle, die das Lesen bei Josef Roth oder auch Stefan Zweig gelernt haben und die die Literatur von Herzen lieben, ist dieser neue Roman Robert Seethalers ein großer Gewinn.
Robert Seethaler: „Der letzte Satz“ (Hanser, 128 Seiten, 19 Euro)
Straubinger Tagblatt vom 14. August 2020