Fragen der Zeit

Was es ist mit der Zeit, das haben die Philosophen immer wieder bedacht. In seinem elften Buch der „Confessiones“ schreibt Augustinus sinngemäß, dass er immer, wenn er glaube, es zu verstehen, sein Verständnis vom Wesen der Zeit verliere; wenn er das Verstehen-Wollen aufgebe, erst dann falle es ihm wieder ein, was es sei mit der Zeit. Heute sagen wir, dass die „Zeit – Gott sei Dank – schnell verging“; vor allem, wenn etwas langweilig zu werden droht. Aber auf der anderen Seite wollen wir doch alle möglichst lange leben – es soll also möglichst viel Zeit vergehen. Und dann sagen wir wieder: „Die Zeit verging viel zu schnell!“ Wir wollen die „Zeit anhalten“, den „Augenblick genießen“, in einer „anderen Zeit leben“. Die Zeit ist ein Thema. „Ein Leben ist schnell vorüber“, sagen die Priester, wenn sie mahnen, aus dem eigenen Leben etwas Gutes zu machen. „Seine Zeit hat sich erfüllt“, wenn es dann zu Ende ist.

Der Theoretiker der Psychoanalyse Erik Erikson hat in einem bahnbrechenden Ansatz das Leben des Menschen auf einer Zeitachse in acht Phasen unterteilt. Mit verschiedenen Aufgaben, verschiedenen Möglichkeiten, verschiedenen Lebenssituationen. Was ist der Sinn davon? Nicht einfach drauflosleben soll der Mensch, sondern ein Bewusstsein entwickeln, was in welcher Lebensphase, was in welcher Zeit von ihm verlangt ist oder auch, was gerade jetzt vom Leben ihm angeboten wird. Am berühmtesten ist die erste Phase des Lebens, die Erikson identifiziert. Die Phase des „Urvertrauens“. Die ersten drei Lebensjahre des Menschen. Das Kind entdeckt sich selbst als wunderbares Geschenk in dieser Welt. Seinen Platz finden in der „kosmischen Ordnung“, wie Erikson das nennt. Die Freude der Kleinkinder. Ihr Urvertrauen in die Eltern, in den anderen Menschen, in die Schöpfung. Ihr Lachen, ihre immer ausgestreckte Hand, die vertraut. Wer Menschen kennenlernt, die bereits in diesen ersten Lebensjahren auf eine gestörte Lebensumgebung trafen, der kann den Riss spüren, der oft ein Leben lang durch die Herzen dieser Menschen geht. Eine schmerzhafte Trennung der Eltern in dieser ganz frühen Phase – eine Katastrophe für ein Kinderherz. Noch schlimmer: der Missbrauch eines Kindes. Nicht zu verzeihen, welche Welt da in Trümmer gelegt wird. Dann die weiteren Phasen der Kindheit: die eigene Selbstständigkeit zu erlernen, Initiative ergreifen zu wollen und können. Dinge bauen, „etwas Richtiges machen“, wie Erikson schreibt. Aber all das bewegt sich im Umkreis der eigenen Familie. Natürlich gibt es Schule oder Freunde, aber Erikson hat genau gesehen, dass die entscheidende Prägung des Menschen lange Jahre in der eigenen Familie geschieht. Erst mit der beruflichen Ausbildung vollzieht sich von der Familie weg der Weg in die allgemeine Gesellschaft; die eigene Identität muss dort am Ende gefunden und auch eingelöst werden können.

Lebenszeit ist also nach Erikson eine Chance auf Selbstverwirklichung. Indem er das Leben in Phasen aufgliedert, die sich wie von selbst entwickeln sollen, nimmt er die Zeit aus einem bloßen Verrinnen von Sekunden, Minuten, Stunden und Tagen heraus und gibt ihr eine Struktur, wie er sie im Leben selbst angelegt sieht. Leben als Bedeutung, nicht als Verrinnen von Zeit.

Ein zweiter Theoretiker der Psychoanalyse spannt den Bogen der Zeit noch über das einzelne Leben hinaus. In seinem Buch „Wahl und Schicksal“ beschreibt der Schicksalsanalytiker Werner Huth, wie jedes Leben auf Voraussetzungen aufbaut, die es selber vorfindet. Für ihn kämpfen in einem Menschen seine „Ahnenansprüche“ miteinander. Ob einer Kaufmann wird oder Künstler, Priester oder Lebemann, nicht alles liegt in der biografischen Entscheidungsgewalt eines Menschen. Jeder Mensch sei einer Ahnengalerie unterworfen, aber auch einer „persönlichen Trieb- und Affektnatur“, die er vorfinde. Während Erikson das Leben eines einzelnen Menschen in den Blick nimmt, sieht Huth seine Eingebundenheit in seine Familiengeschichte über Generationen hinweg.

In diesen Tagen ist es für Menschen unglaublich schwer, sich auf solche Selbstfindungsthemen zu besinnen. Das Leben ist so schnell geworden und vor allem die digitale Welt suggeriert eine beständige Gegenwart von Leben. Im Netz ist immer jetzt, die Besinnung auf das Morgen oder auch das produktive Erinnern an das Gestern ist für viele fast unmöglich geworden. In der Dauerschleife von Gegenwartsreizen gibt es immer weniger Grund, sich über das eigene Leben, die eigene Endlichkeit, das eigene Schicksal Gedanken zu machen. Wie sagte der sympathische Hitparadenmoderator und Schnellsprecher Dieter Thomas Heck vor Jahren auf die Frage, wie er mit dem Tod umginge: „Da bin ich ganz realistisch – das dränge ich ganz weit weg!“

In einer Welt, die von Konsum, aber auch von überforderndem Leistungsdenken geprägt ist, sind viele Menschen froh, wenn sie irgendwie durchs Leben kommen. Alles andere bleibt für sie Theorie und Philosophie. Das aber ist schade und am Ende auch verhängnisvoll. Denn so wird der innerste Kern dessen, was Leben so wertvoll macht, versäumt. Die Freude am eigenen Leben kann gar nicht ganz erfahren werden. Im Beruf überfordert und zu Hause erschöpft – das ist oft genug die Balance, in der sich dann ihr Leben abspielt.

Jetzt ist Pause. August und freie Zeit. Kein Straubinger Gäubodenvolksfest und auch kein Münchner Oktoberfest. Schulferien. Wenig Ablenkungsmöglichkeit. Die Zeit wird lang. Am Himmel kaum Flugzeuge, viele Strände leer. Im Letzten Zeit zur Besinnung. Der große Revolutionär des Denkens Sigmund Freud hat einen wunderbaren Aufsatz geschrieben mit dem Titel: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. In der freien Zeit geht einem vieles durch den Kopf, was man im Alltag verdrängen konnte. Das ist zwar durchaus lästig, aber am Ende auch produktiv. Es zeigt, dass wir am Ende bei aller Ablenkung doch in unserer eigenen Lebensgeschichte bleiben, in unserer Biografie zuinnerst verwurzelt sind. Dass wir unsere Kindheit erinnern, unsere Schulzeit, unsere Geschichte. Dass wir unsere wahren Sorgen nicht ganz verdrängen können, unsere wahren Bedürfnisse nicht und unsere wahren Hoffnungen auch nicht. Die Welt als großer Ablenkungstempel reicht plötzlich nicht mehr aus. Wir haben eine Sehnsucht, die tiefer reicht und weiter geht.

Es gibt viele gesellschaftliche Kräfte, die Welt so organisieren wollen, dass sie uns von uns selbst wegführt. Politische Kräfte, aber auch wirtschaftliche Interessen. Sie degradieren uns zu passiven Objekten einer Welt, die von ihnen als Markt oder als Interessensphäre definiert wird. Das zu durchschauen und nicht mitzuspielen, ist unsere Aufgabe. Denn unser Leben bleibt unser Geschenk, das wir gar nicht ernst genug nehmen können. Lassen wir uns nicht verführen!

Straubinger Tagblatt vom 14. August 2020