Vor ein paar Tagen saß ich mit meinem Freund Pirmin Spiegel, dem Chef der Hilfsorganisation Misereor, zusammen. Hunderte von Millionen werden von Hilfsorganisationen wie Misereor jedes Jahr in Afrika, Lateinamerika oder Asien eingesetzt, um dort die Lebensverhältnisse zu verändern. Die Welthungerhilfe, Ärzte ohne Grenzen, viele andere bemühen sich, zu helfen und zu heilen.
Etwas resigniert meinte ich zu dem langjährigen Entwicklungshelfer der Dritten Welt: „Eine einzige Bombe im Sudan, im Jemen, in der Ukraine zerstört mehr, als wir beide in einem ganzen Menschenleben leisten können.“ Die überraschende Antwort des Priesters: „Und doch gehören wir, weil wir so handeln, wie wir das tun, zu denen, die schon in dieser Welt für eine bessere Welt einstehen.“ Das war nicht nur ein Hoffnungsfunken, den mir der Monsignore Spiegel so zurufen wollte, sondern psychologisch gesehen ist da etwas ganz anderes passiert. Er verschob mit dieser Antwort die Perspektive vom Objekt des Handelns zum Subjekt der Handlung. Auch wenn es also der Arbeit des Sisyphus gleicht, der den Stein, der immer wieder ins Tal läuft, erneut den Berg nach oben rollt – es verändert uns selbst, dass wir uns bemühen, das war die Intention seiner Antwort.
Über dieses Selbst, das Spiegel so aufruft, haben die Psychologen Bände von Literatur verfasst. Im Unterschied zum „Ich“, das unser Funktionieren in der Alltagswelt gewährleistet und möglich macht, dass wir an der Ampel anfahren, sobald sie von Rot auf Grün wechselt, umfasst das Selbst eine viel tiefere Ebene unseres Mensch-Seins. Unsere Seele, das Unbewusste, unsere Wünsche, Erinnerungen und Hoffnungen, unsere Persönlichkeit, die mehr ist als ein handelndes Ich, das den Wagen aus der Garage fährt. Dieses Selbst ist buchstäblich auch das Einfallstor unserer spirituellen Erfahrungen, ganz gleich, ob wir sie unbeabsichtigt und unverhofft erleben oder doch in einer Meditationsstunde, wo es genau um diese Möglichkeit spiritueller Erfahrung geht. In diesem Selbst liegen unsere tiefsten Intuitionen, das Wissen der Generationen, denen wir entstammen, die Erfahrungen unserer Großeltern und Urgroßeltern. Es ist der Urgrund unserer Persönlichkeit, die jenseits bloßen Funktionierens und Reagierens wurzelt. Die Philosophen sagen uns, dass wir in diesem unseren Selbst eine Identität durch alle Zeiten hindurch haben, auch wenn wir uns noch so häufig verwandeln und uns als immer wieder neu Verwandelte in immer neuen Lebenssituationen zurechtfinden müssen. An einer amerikanischen Universität habe ich dafür ein wunderbares Bild gesehen. Ein junges Mädchen sitzt alleine vor einem stillen See und blickt nachdenklich darauf. Darunter steht auf Englisch geschrieben: Ein Mensch in tiefster Frage und Suche nach sich selbst. Das Allein-Sein als Voraussetzung der Selbstfindung. Nicht bloß reaktiv im Alltag eine Rolle wahrnehmen, sondern sich herauszunehmen aus den Alltagsprozessen und in der Stille die Quellen der eigenen Lebenskraft zu entdecken, darum geht es bei diesem Bild. Ist ein solches Selbst unpolitisch?
Wenn Dich einer schlägt, dann halte ihm die andere Wange hin, das sagt das Evangelium. Ist das der Aufruf, sich nicht zu wehren? Nein, auch hier verlagert Jesus die Ebene des Sprechens vom Objekt der Welt auf die Ebene des Subjekts. Er sagt so: Erst einmal bist Du damit der Herr Deines Handelns! Du musst nicht reaktiv Böses im ersten Reflex Deines Handelns mit Bösem vergelten. Zwischen dem, was Du tust oder nicht tust, liegt der Augenblick Deines Verhältnisses zu Dir selbst. Allein in Deinem Handeln entscheidest Du, wer Du bist. Nicht die Weltbezogenheit Deines Handelns ist entscheidend, sondern die Beziehung Deines Handelns zu Dir selbst! Du bleibst gerade so der Herr Deiner selbst. Der Religionswissenschaftler Michael von Brück hat in einem schönen Buch über den Hinduismus, die Religion Indiens also, als Kern dieser Religion herausgearbeitet den Leitsatz dieser Religion: „Du bist, was Du tust!“
„Der Firnis der Zivilisation ist dünn“, so meinte vor Jahrzehnten beim Studium ein kluger Kommilitone von mir in den Stunden des Oberseminars. Wir wissen, dass wir allzu leicht im Reflex zurückschlagen. Im Alltag, im Straßenverkehr, in beruflichen Auseinandersetzungen. Die Philosophen und Verhaltensforscher sagen uns, dass der Mensch nicht von Natur aus zum Bösen geneigt ist, jedenfalls nicht im Normal- oder Regelfall. Dass er sich aber dort, wo er sich in die Enge gedrängt fühle, schnell zurückschlage. Ob das lateinische Wort „angustae“ für Enge etymologisch wirklich zum deutschen Begriff „Angst“ führt, sei dahingestellt. Aber Sinn macht diese Ableitung allemal. Wer in der Angst ist und aus der Angst heraus handelt, schlägt fast zwangsläufig um sich!
Jetzt liefert der Westen also auch Streubomben. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, sagt der amerikanische Präsident Joe Biden. Kriege führen in Spiralen nach unten. Böses wird mit demselben Bösen vergolten. Irgendwann fallen die letzten inneren Hürden. Unmenschliches wird mit Unmenschlichem vergolten. Streubomben und Minen sind in humanen Gesellschaften eigentlich längst geächtet. Die Rückkehr dahin ist noch ein Zivilisationsbruch! Das Argument, dass die andere Seite das auch nutzt, führt, wenn wir uns nach unserem Verhältnis zu uns selbst fragen, nicht weiter. Wir gehen mit solchem Handeln einen Schritt weiter weg von dem, wer wir eigentlich sein sollten! Wir geben die Kultur, die wir uns im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt erarbeitet haben, auch Schritt für Schritt aus der Hand.
Die Politiker der Ukraine? Verführen gerade mit ihrer Sprache zu solchem Tun. Was Putin in seinem Wahnsinn tut, können wir schwer beeinflussen. Nicht mit Sanktionen, offensichtlich auch nicht mit Waffen. Aber ob wir den Sirenenklängen der ukrainischen Politiker folgen, die uns immer tiefer in die Gewalt hineinziehen, das können wir sehr wohl selber entscheiden. Oder jedenfalls könnten wir es! Wenigstens in Teilen der SPD klingt die Humanität einer Friedensarbeit, die nicht nur den Waffen vertraut, immer noch leise durch. Auch beim Kanzler. Die Röttgens und Strack-Zimmmermanns schlagen dagegen auf die Trommeln des Krieges, als wollten sie selber schon bald einrücken, um mitzuhelfen in den blutigen Auseinandersetzungen im Osten Europas. Dabei sind die Anzüge Norbert Röttgens, die er so gerne maßgeschneidert trägt, doch irgendwie im Widerspruch zu solchen verborgenen Sehnsüchten.
„Vermute nie eine bessere Gesinnung, wenn es noch eine schlechtere gibt!“ Diesen Leitspruch gab mir der politische Redakteur Fridolin Markus Rüb vor Jahrzehnten mit auf den Lebensweg, wenn er damals meinen jugendlichen Idealismus bemerkte. Geht es in der Ukraine um Frieden in Freiheit? Mag schon sein! Irgendwo auch. Aber am Ende geht es vor allem sehr stark um globale Einflusssphären. Um Macht, um Rohstoffe, um Energie, um Märkte. Die USA bekämpfen mit ihrer ukrainischen Fremdenlegion den traditionellen Rivalen im Osten. Ohne einen einzigen toten amerikanischen Soldaten. Das ist auch eine Lesart dieses Krieges. China erschließt sich die Märkte, die europäischen Unternehmen durch die Sanktionen verschlossen sind. Und das in ganz großem Stil! Und die Menschen in der Ukraine? Leiden, sterben, bekommen Traumata, die noch in Jahrzehnten wirken werden. Die Mütter in Russland, die ihre Söhne verlieren, genauso. Jeden Abend motiviert Präsident Selenskyj sein Volk in Ansprachen durchzuhalten. Ist das noch Politik oder doch weit eher Propaganda? Denken die Menschen in der Ukraine, wenn sie diesen Krieg in der Mehrheit immer noch gutheißen, was sie selber denken oder doch das, was ihnen jeden Tag neu eingeimpft wird? Putin ist böse. Ein schlimmer Mörder. Selenskyj? Treibt uns ins Böse hinein. Jeden Tag neu. Anstatt einen Schritt zurückzutreten und innezuhalten, gehen wir eifrig nach vorne und schlagen zurück.
Am Dienstag, 11. Juli, treffen sich die NATO-Staaten in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Die Ergebnisse sind absehbar. Mehr Waffen, Sicherheitsgarantien für die Ukraine, langfristig Mitgliedschaft im Bündnis.
Die NATO als Wertebündnis jenseits des militärischen Horizonts, was auch im Gründungsprogramm steht? Eher Fehlanzeige. Und die Streubomben der USA, die also kommen sollen. Eine Randnotiz. Nicht mehr. Was für Zeiten!
Straubinger Tagblatt vom 11. Juli 2023