Franz Kafka lässt grüßen

Die Verhaftung und Verurteilung Joachim Wolbergs’ besitzt geradezu literarische Dimensionen.

Das Meisterhafte an Georg Büchners Dichtungen und Schriften vor 200 Jahren war eine revolutionäre Einsicht: Der Mensch will frei sein, aber er ist in so viele Außenbezüge verwoben, dass er immer in Gefahr ist, sich selbst ganz zu verlieren. Das Paradebeispiel dafür ist für Büchner der Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz, ein früher Freund Johann Wolfgang von Goethes, der sich nach seiner Sturm-und-Drang-Phase nicht mehr fängt und so weit in den Irrsinn abgleitet, dass ihn Goethe später in Weimar nicht mehr empfängt.

Büchner beschreibt Lenz in der gleichnamigen Erzählung als einen Mann, der verzweifelt versucht, sein Leben von sich selbst her zu deuten und zu bestimmen, dem dies aber nicht gelingt. Am Ende verfällt er dem Wahnsinn. Büchner fasst das am Schluss seiner berühmten Erzählung folgendermaßen zusammen: „Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“

Warum „Woyzeck“ zum Mörder wird

Das ist die Außenansicht eines innerlich stumm Gewordenen. Büchner hat als Erster bereits im frühen 19. Jahrhundert erkannt, dass Menschen in psychischen, aber auch in sozialen Bezügen stehen, die beständig ihre Autonomie in Frage stellen. Dass Menschen verkannt werden, wie wir umgangssprachlich sagen. Nicht von ungefähr hat ein berühmter Philosoph einmal in einer Vorlesung gefragt: „Wie geht es einem Menschen, der spürt, dass er ein Leben lang seine Talente nicht einbringen durfte in eine Gesellschaft, die ihn verkannt hat?“ Der Betroffene kann ein Künstler sein, aber auch ein ganz normaler Mensch, der seinen Berufsweg nur schwer findet und plötzlich seine Arbeit verliert und dann den Weg nicht zurückfindet. Tragisch.

In dem Dramenfragment „Woyzeck“ hat Büchner einen weiteren kranken Menschen literarisch erschaffen, den seine Umwelt in eine solch unnatürliche Rolle drängt, dass er sich selbst nicht mehr finden und definieren kann. Ein Mensch, der von allen herumgestoßen wird. Seine Geliebte wird von einem Anderen verführt, und ein Arzt missbraucht ihn als Versuchsobjekt für seine stümperhaften Experimente, mit denen er sich vor der Gesellschaft aufspielt. „Hat er seine Erbsen gegessen?“ Auch heute noch ist diese abwertende Frage des Arztes an den entmündigten Patienten Woyzeck vielen ein Begriff. Am Ende wird Woyzeck zum Mörder in einer Welt, die es ihm unmöglich gemacht hat, sein Dasein in Würde zu leben.

Verhaftung des OBs in einer Nacht-und-Nebel-Aktion

Es ist viel geschrieben worden über den ehemaligen Oberbürgermeister von Regensburg, der jetzt wegen Bestechlichkeit zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Das blieb von der groß aufgezogenen „Parteispendenaffäre“ am Ende übrig. Das Urteil des Landgerichts Regensburg wurde in allen Zeitungen ausnahmslos wohlwollend aufgenommen. Es sei Zeit, den Sumpf der Korruption in Regensburg trockenzulegen, so die Quintessenz der Journalisten. Eine Stadt atmet auf, das war der Grundtenor der kritischen Kommentare in nahezu allen Medien. Und der ehemalige Oberbürgermeister hatte auch viel dafür getan, um sich die Journalisten zu Feinden zu machen. Nach dem ersten Prozess, der ihm noch ein mildes Urteil beschert hatte, stürmte er aus dem Gerichtssaal nach draußen und schimpfte in Richtung der Berichterstatter sinngemäß: „Jetzt habt Ihr es! Schwarz auf weiß!“ So macht man sich nicht unbedingt Freunde.

Die andere Seite der Medaille gibt es aber auch: Aus dem Nichts heraus wurde der bis dahin juristisch nie auffällig gewordene Bürger Joachim Wolbergs in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am frühen Morgen in der Tiefgarage seines Hauses verhaftet. Und das als Oberbürgermeister, der in der Öffentlichkeit steht. Wie mag er sich in diesem Moment gefühlt haben? Eher wie eine Figur aus einem Roman, der einen Alptraum erlebt.

Dann die Einweisung in die Psychiatrie der Justizvollzugsanstalt Straubing. Wegen potenzieller Selbstmordgefahr. Über vier Wochen. 24 Stunden lang Licht und Beobachtung von außen. Dazu kam noch das Gerede von außen: etwa der Medien oder der Staatsanwälte, die vor die Kameras traten. Es gelte die Unschuldsvermutung, so der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Aber wer wollte das noch glauben, da der Mann doch jetzt im Gefängnis saß!

Gleichzeitig erfahren seine Kinder am Morgen in der Schule von den Klassenkameraden, was gerade mit ihrem Vater passiert ist. Schöne neue Welt der digitalen Medien! Schnell wie der Wind.

Dann ein jahrelanger Zermürbungs- und Abwehrkampf mit Fragen und Selbstzweifeln wie: Wer deutet mein Leben? Die Staatsanwälte? Das Gericht? Die Medien? Die Gesellschaft? Bin ich als der, der schon vor Gericht steht, überhaupt noch in der Lage, meine Rolle in der Welt von mir her zu definieren? Selbst mit den besten Anwälten? Was denken die Anderen? Was habe ich selbst wirklich getan und gedacht? Wer bin ich jetzt?

Politiker verlieren leicht die Bodenhaftung

„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So beginnt der weltberühmte Roman „Der Prozeß“ von Franz Kafka. Und was ist die Schuld des Angeklagten? Der Schriftsteller Martin Walser hat diese Frage für „Josef K.“ und alle Figuren Kafkas in seiner glänzenden Doktorarbeit beantwortet, die einen wissenschaftlichen Durchbruch in der Kafka-Forschung bedeutete. Die Schuld ist „die Einsinnigkeit“ des Bewusstseins der Figuren. Sie schaffen den Überstieg in das Bewusstsein der Anderen nicht. Sie sehen die Welt allesamt nur von sich selber her. Dass der Andere am Ende genau derselbe ist wie ich selbst, das erleben Kafkas Figuren nicht. Mächtig sind sie deshalb und ohnmächtig. Aber die Brücke zum Anderen gibt es in Kafkas Werken nicht, das Versöhnliche der Nähe und der Liebe. Alles ist bei Kafka nur Macht oder Einsamkeit.

Politiker geraten immer in Versuchung zu vergessen, dass sie im Regelwerk der Gesellschaft auch nur ein kleines Rad bleiben. Dass sie ein Mensch unter Menschen sind. Mit all den Regeln, die dann gelten. Gerade als Ministerpräsident oder gar als Kanzler. Sie verlieren allzu leicht die Bodenhaftung. Das ist ihr Berufsrisiko. Auch schon in kleineren Ämtern. Ihr Gestaltungs- und manchmal auch ihr Geltungsdrang werden leicht übermächtig. Sie stehen täglich vor den Kameras der Welt und haben plötzlich das Gefühl, die Hauptfigur in einem Film zu sein, der vor allem von ihnen selbst handelt. Allzu leicht verlieren sie so das rechte Maß.

Ein Gerichtsurteil wird zum Trauma eines Menschen

Aber müssen wir deshalb das Mitleid verlieren, wenn einer stürzt? Unvergesslich, wie Helmut Kohl verzweifelt vor dem Bundestag erklärte, dass er für Parteispenden nicht käuflich gewesen sei. Der neue Kanzler Gerhard Schröder und sein kleiner Außenminister Joschka Fischer saßen grinsend auf der Regierungsbank und genossen die Demütigung des Altkanzlers. Der Blick von außen. Das Urteil der Anderen. Häme. Die Deutungshoheit über das eigene Leben und Schaffen verloren. Das ist schrecklich. Die Wahrheit vor Gericht, die dann gnadenlos daherkommt und messerscharf urteilt, ist das eine. Die Wirklichkeit eines Menschen, der eben doch ein Mensch geblieben ist, das andere.

Auf der einen Seite der Waage liegen bei dem ehemaligen Oberbürgermeister von Regensburg 75 000 Euro, die er nicht hätte annehmen dürfen. Der Wert eines gebrauchten Mittelklasse-Mercedes. Auf der anderen Seite ein Trauma, das anhält und nicht weggeht. Menschlich, aber auch finanziell.

Der Revolutionär Mercier, der bei Georg Büchner in seinem Revolutionsdrama „Dantons Tod“ von Robespierre und den Seinen in einer regelrechten Gerechtigkeitsorgie zum Tode verurteilt wird, schreit es heraus: „Die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern, die Guillotine republikanisiert! Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“

Und was die Medien angeht: Sie lieben es, über die gefallenen Helden zu berichten. Was vergessen wird: Der, über den geschrieben wird, liest das am Ende auch – und er ist bei der Lektüre, die von ihm handelt, buchstäblich ganz alleine.

Straubinger Tagblatt vom 11. Juli 2020