Es sterben die anderen – 150 Jahre Deutsches Reich: Otto von Bismarck ging für die Gründung über Leichen

Genau 150 Jahre ist das heute her. Juni 1871: Ganz Berlin ist auf der Straße. Es wird gefeiert. Das Deutsche Reich ist gegründet. Die Menschen strömen auf die Straßen und Plätze und feiern. Die Soldaten marschieren, die Frauen haben sich hübsch gemacht, eine Stadt liegt sich in den Armen.

Aber warum übergehen wir heute diese Reichsgründung so auffällig unauffällig? Liegen am Ende so schlimme Schatten über diesem Deutschen Reich, dass wir kaum daran erinnert werden wollen? Überhaupt: Wer junge Menschen fragt, wann denn dieses Deutschland zum ersten Mal da war, der schaut fast ausnahmslos in ahnungslose Gesichter. 1600? 1900? Warum gibt es überhaupt ein Deutschland? Was war vorher? Wer hat es gegründet? Wer wollte es und wer eher nicht?

Wir erinnern Schulwissen: die drei Kriege, die der preußische König Wilhelm I. zusammen mit seinem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck führte, erst gegen Dänemark, dann gegen Österreich, am Ende gegen Frankreich 1870. Ein Jahr später die Reichsgründung. Von oben. Wie schon die Verfassungen gut 20 Jahre vorher in Preußen, aber auch anderswo. Der Adel bestimmt, Rechte werden gegeben im kleinstmöglichen Rahmen.

1848: Weder Demokratie noch Parlamentarismus kommen zum Zug. Es bleiben die Königreiche und Fürstentümer. Keine Republik wird gegründet und keine Parlamente, die den Namen verdienten. Und jetzt, 1871 nochmals dasselbe Spiel. Preußen gründet sein Deutschland. Aus den Königreichen und Herzogtümern, aus Bayern und Sachsen, aus Württemberg und Baden entsteht das neue Deutschland. Auch die Nation erblickt das Licht der Welt auf Geheiß von oben. Was die Schule nicht lehrt, erzählt der Historiker Tillmann Bendikowski in seinem gerade erschienenen Buch: „Der Mythos von der deutschen Einheit“. Die Gründung dieses Reiches war ein Verbrechen an den Menschen, die im Jahr 1871 in ihm aufwachten.

Heute undenkbar: Preußen führt Krieg gegen Österreich und die Bayern, die Wien unterstützen. Die Hohenzollern gegen die Habsburger und die Wittelsbacher. Der Machtmensch Bismarck will ein Deutsches Reich, aber ohne das mächtige Habsburg und unter der Führung der Preußen. Deshalb muss es Krieg geben gegen das österreichische Bruderland. Bezahlt wird das schon damals mit dem Leben der einfachen Soldaten und auch dem Leid der Zivilbevölkerung. „Der große Krieg“, so nennen die Menschen 50 Jahre später den Ersten Weltkrieg.

Aber die Massaker dieser von Bismarck gewollten drei Kriege deuten auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts voraus. Die Leichtfertigkeit und auch der Zynismus, mit dem Bismarck das Leben der Menschen, die in diesen drei Kriegen sterben, opfert, nehmen ebenfalls die Rolle der Mächtigen in den beiden Weltkriegen voraus. Bismarck trinkt flaschenweise Champagner, wo die Lust am Spiel mit der Politik und der Macht nicht reicht.

Es sterben die anderen, wie zum Beispiel der preußische Major Cäsar Rüstow, dessen Lebensende die „Allgemeine-Militär-Zeitung“ beschreibt: „Da traf ihn ein bayerisches Musketen-Geschoß in den Unterleib, und er sank vom Pferde. Die Wunde war wohl, wie die meisten Unterleibswunden, tödtlich, doch hätte er noch Tage lang in Leiden fortleben können. Dieß sollte ihm erspart werden. Auf dem Verbandsplatze, wohin ihn einige seiner Leute trugen, und während er verbunden ward, traf ihn ein zweites Geschoß in den Hinterkopf und machte seinem Leben augenblicklich ein Ende.“

Hoch über dem Rhein steht die Festungskirche von Breisach. Faszinierend ist sie nicht nur als Kirche, sondern weil auf ihren Mauern die Spuren von drei deutsch-französischen Kriegen deutlich sichtbar sind. Einschläge von Kanonenkugeln und Gewehrsalven. Wer länger dort steht und auf den Rhein blickt, wo immer noch die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich verläuft, dem kommen die Bilder der Kriege vor das geistige Auge.

Gut 100 Jahre später werden Helmut Kohl und François Mitterrand über den Gräbern der gefallenen Soldaten sich an den Händen halten und aus ihrem Innersten versprechen, dass es nie wieder Krieg gibt in diesem Europa, das aus der Freundschaft von Frankreich mit Deutschland seinen tiefsten Impuls nimmt. Aber jetzt ist 1870 und für Bismarck, diesen Polit-Kriminellen des 19. Jahrhunderts, ist Krieg ein Mittel der Politik.

Als äußerer Anlass findet sich die Frage, wer in Spanien auf dem Thron sitzen soll. Darüber gilt es, unter den europäischen Monarchien zu reden. Aber ob es am Ende ein Hohenzoller wird oder nicht, ist eigentlich keinen Krieg wert, das weiß Bismarck und nicht nur er. Also verschärft er die Krise bewusst, am Ende geht es um Ehre und Vaterland, und er erregt und gewinnt damit die Herzen so mancher im Lande, nicht erst die Nazis verstehen sich auf Propaganda, damit Friedensdiplomatie nicht mehr wirkt.

Auch diesen Krieg gegen Frankreich, den er so unbedingt will, bekommt Bismarck, auch deshalb, weil die französische Regierung Napoleon III. sich in einer innenpolitischen Krise befindet und einem Krieg ebenfalls nicht abgeneigt ist. Mächtige auf Abwegen. Außenpolitik samt Krieg aus innenpolitischen Motiven. Umsonst kommentiert die in Prag erscheinende „Deutsche Volkszeitung“ am Vorabend des Krieges im Juli 1870: „Um einer Familienfrage willen, eines dynastischen Interesses wegen sollen zwei große edle Nationen, die deutsche und die französische, in blutigem Kampfe sich zerfleischen und anstatt im friedlichen Wettstreite um den Siegespreis wirtschaftlichen und geistigen Fortschrittes zu ringen, soll die Blüte zweier Völker auf Schlachtfeldern zertreten werden.“

Bayern will nicht, jedenfalls nicht die Mehrheit, genausowenig die Menschen aus dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Baden. Jetzt – nachdem Österreich geschlagen ist – stehen sie an der Seite Preußens, sie müssen – und was die Mächtigen der Welt entscheiden, es bezahlen die Menschen, die Soldaten, die Bürger, die keine sein dürfen.

Das in Augsburg erscheinende „Wochenblatt für das christliche Volk“ schreibt: „Beim Landvolk ist vielfache Erbitterung wahrzunehmen über den künftigen Krieg; kaum hat man sich etwas erholt, so geht das Kriegselend auf’s Neue los. In den Städten, besonders wo Fabriken sich befinden, gehen die Arbeiter einer bitteren Zukunft entgegen; die Fabrikherren stellen die Arbeit ein, schicken die Arbeiter fort. Woher Brod nehmen?“ Aber was interessiert die Herren der Welt die Not der Menschen?

Am Ende gewinnt Bismarck auch diesen Krieg, aber auf beiden Seiten sterben Zehntausende Soldaten. „Im Westen nichts Neues“, so wird das Buch heißen, das das Elend, das dieser Krieg schon vorwegnimmt, als Weltbestseller beschreibt. Drei Kriege sind es zwischen Frankreich und Deutschland innerhalb von 75 Jahren, bezahlt von den Söhnen der Mütter, die an den Gräbern ihrer Kinder trauern. Aber Bismarck trinkt Champagner nach den gewonnenen Schlachten und freut sich über sein Kriegsglück. Ein Unmensch von adeligem Geblüt. Nicht nur die Heere dirigiert er, sondern auch den Mann, von dem er will, dass er nicht mehr preußischer König, sondern deutscher Kaiser in einem neuen Deutschland sein wird. So will es Bismarck.

Und was geschieht? Deutschland gewinnt Elsass und Lothringen dazu – jedenfalls für eine Zeit. Erst mit Hitlers Ende geht das wieder zu Frankreich. Aber die Menschen dort sprechen noch heute beide Sprachen nach ihrer bewegten Geschichte und sie haben noch heute ein tiefes Erinnern, was über die Jahrhunderte geschah. Und wo lässt sich der preußische König Wilhelm zum Kaiser von Deutschland ausrufen, am 18. Januar 1871? Im Spiegelsaal von Versailles, diesem Herzstück französischen Stolzes, nicht weit von Paris. Den Friedensvertrag, der Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg fast 50 Jahre später so tief demütigen wird, den wird man dann auch in Versailles abschließen, so ist das Leben, da darf sich keiner wundern.

25 Jahre später werden im Zweiten Weltkrieg nochmals deutsche Soldaten stolz in Paris posieren und Fotos vom Eiffelturm nach Hause schicken, aber das ist es dann glücklicherweise auch. Mit Bismarck beginnt all das – da darf sich keiner wundern, dass heute schon auch diskutiert wird, ob es in Berlin noch Bismarckstraßen oder Bismarckstatuen geben soll.

Und Bayern? Die Möglichkeiten der Mitsprache sind mehr als beschränkt, aber in der Debatte im bayerischen Landtag ruft der Abgeordnete Anton Ruland von der Bayerischen Patriotenpartei den Abgeordneten des Hauses zu: „Wir wollen ein einiges Deutschland, wo durch die freie Vereinigung aller Stämme, so wie es früher war – die Stämme wußten es nicht anders und kannten es nicht anders – ohne Aufgeben der eigenen Selbständigkeit gegen das Ganze treue Pflichterfüllung stattfindet! Das, meine Herren, war es, was man von jeher in Deutschland als eine Einigung betrachtete, mit andern Worten, ein föderativ geeinigtes Deutschland.“

Wenn heute der Föderalismus so leichtfertig geschmäht wird, dann muss man schon wissen, dass neben der Gewaltenteilung in Regierung, Parlament und Gerichte genau er ein Element der Demokratie ist, für das gerade die Bayern schon damals einstanden. Im Grundgesetz wird das 1949 genau deshalb wieder verankert, nachdem dann Adolf Hitler mit den Seinen alle Macht an sich gerissen und wieder verloren hatte.

Überhaupt die Bayern: Sie verstehen, dass ein Preußenreich, das sich jetzt Deutschland nennt, so gar nicht zu ihrer Seele passt. So schreibt sein Bruder Otto an den Märchenkönig Ludwig II. von Bayern: „Ach, Ludwig, ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Zeremonie zumute war, wie sich jede Phase in meinem Innern sträubte und empörte gegen all das, was ich mit ansah … Welchen wehmütigen Eindruck machte es mir, unsere Bayern sich da vor dem Kaiser neigen zu sehen.“ Und vor allem der preußische Militarismus ist den Bayern ein Graus, wie die Wortmeldung des Abgeordneten Edmund Jörg im Landtag zeigt: „Dieses unser bayerisches Volk …  hat nicht eine militärische Vergangenheit hinter sich … dieses Volk ist für den Frieden geboren, es ist den Frieden gewohnt, und es wird unendlich bitter fühlen, was es heißt, das dienende Glied eines großen Militärnationalstaats zu sein.“

Der Rest ist bekannt. Ein Erster Weltkrieg, in den die Deutschen begeistert ziehen, um in den Schützengräben in Frankreich traumatisiert zu erwachen. Eine Weimarer Republik ab 1918, die nach diesem Vorspiel des 19. Jahrhunderts gar nicht stark genug werden konnte, um die Demokratie in Deutschland länger als 15 Jahre zu erhalten.

1933 der Absturz ins Dritte Reich. Angeführt nicht mehr von den Hohenzollern und ihren Königen, sondern einem österreichischen Gefreiten, der sich als deren Erbe sieht. In gewisser Weise war er es ja wirklich!

Nochmals ein letzter Krieg gegen Frankreich, am Ende wird Deutschland geteilt, einen zweiten Diktatfrieden von Versailles gibt es nicht, weil die zivilisierten Kriegssieger wissen, dass die Gewalt mitsamt ihren Demütigungen ein Ende haben muss. Stattdessen 1949 ein neuer Anfang mit Grundgesetz und Bundesrepublik, 40 Jahre später die Wiedervereinigung, die wir dankbar jedes Jahr feiern.

Das Gründungsjahr des Deutschen Reichs feiern wir nicht. Genau vor 150 Jahren, am 16. Juni 1871, waren die Menschen in Berlin auf den Straßen, um zu feiern. Sie konnten nicht wissen, was diesem Deutschland die Zukunft bringt.

Wer all das, was hier auf einer Zeitungsseite nur in einem kleinen Ausschnitt erzählt werden kann, in aller Ausführlichkeit nachlesen will, der kaufe von Tillmann Bendikowski: „1870/71 – Der Mythos von der deutschen Einheit“. Die hier verwendeten Zitate sind sämtlich diesem Buch entnommen. Erschienen bei Bertelsmann 2020. Glänzend und spannend erzählt, sehr zu empfehlen!

Straubinger Tagblatt vom 19. Juni 2021