Es gibt nur eine Alternative zur Gewalt – Fast zwei Jahre ist es her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Zeit, eine wenigstens vorläufige Bilanz zu ziehen. Über Fehler von Medien, politische Dilemmata und Lösungsmöglichkeiten

Die Bewertung des Falls ist zweifelsfrei: Putin hat gegen alle Regeln des Völkerrechts das Nachbarland überfallen. Er ist der Angreifer, der für diesen Krieg die Verantwortung trägt. Die Ukraine will ein freies Land sein, das selbstbestimmt seine Zukunft wählt. Daran gibt es nichts herumzudeuteln. In den zwei Jahren dieses Krieges ist allerdings auch die Prognose der Fachleute wahr geworden, dass eine rein militärische Reaktion der Ukraine mitsamt der westlichen Unterstützung diesen Konflikt nicht lösen wird.„Irgendwann wird man sich an einen Tisch setzen müssen und verhandeln“, sagte schon bald der österreichische Außenminister nach Beginn des Krieges. Und es waren in Deutschland vor allem die fachkundigen ehemaligen Bundeswehrgeneräle, die den ständig drohenden Ost-West-Konflikt der 70er- und 80er-Jahre noch jeden Tag in ihrem Dienst verstehen und bewältigen mussten, die vor einer immer weiteren Eskalation des Krieges mit immer mehr Waffen warnten. Harald Kujat, Erich Vad, oder in dieser Zeitung Jürgen Reichardt hatten von Anfang an verstanden, dass sich dieser Krieg – vergleichbar dem Ersten Weltkrieg – irgendwo an einer Demarkationslinie im Osten der Ukraine festfressen und seinen sinnlosen täglichen Blutzoll einfordern würde.
Bereits ganz am Anfang, im März 2022, schrieb Jürgen Reichardt in dieser Zeitung: „Ein ungleicher Kampf bietet nach dem Urteil vieler Fachleute keine dauerhafte Chance, den Krieg gegen die Weltmacht Russland zu bestehen. Je länger er dauert, desto schlimmer die Schäden, desto höher die Opfer.“ Genauso ist es gekommen!
Vor der sogenannten „Frühjahrsoffensive“ im vergangenen Jahr, die am Ende ohne jeden nennenswerten Erfolg blieb, hatte Erich Vad mit verzweifeltem Ton in der Stimme gesagt, dass das nur das grausame Sterben verlängere: „Diese jungen Leute sterben für nichts“, meinte er damals wörtlich. Genauso ist es gekommen!
Heute fliegen die Drohnen der Russen nach Kiew oder Odessa und morden die Zivilbevölkerung in immer noch schlimmerem Ausmaß. Und umgekehrt töten ukrainische Soldaten mit dem Hass, den nur der Krieg in dieser Form befeuert, ihre Gegner mitleidlos. Auf diese Spirale von Hass und Gewalt haben an erster Stelle immer wieder die Philosophen in diesem Land hingewiesen. An der Spitze Jürgen Habermas, der in zwei großen Texten in der „Süddeutschen Zeitung“ auf diese Eigendynamik von Hass und Gewalt hinwies, die Recht und Unrecht am Ende ununterscheidbar mache. Ein wesentliches Argument für Verhandlungen, ganz gleich, wer am Ende die Verantwortung für diesen Krieg trägt, das auch schon der kluge Soziologe Harald Welzer in die öffentliche Diskussion eingebracht hatte.
Unterstützt wurden sie allerdings nur von wenigen Politikern der SPD, vor allem dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Rolf Mützenich, und dem rhetorisch immer kampfeslustigen Ralf Stegner. Gregor Gysi wiederholte seine Position, dass er überhaupt keine Waffen geliefert hätte, und Sahra Wagenknecht, heute mit neuer Partei, teilte seine Haltung. Kanzler Olaf Scholz agierte am Anfang klug und vorsichtig. Am Ende trieb ihn der politische Kompromiss mit den anderen Parteien seiner Koalition und auch mit den militärisch in der NATO verbündeten Staaten in die entgegengesetzte Richtung.
In den Medien gab es von Anfang an eine einseitige Diskussion des Krieges. Vor allem die eher halbgebildeten Moderatoren der nächtlichen Talk-Shows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen waren stolz, gut und böse so sauber unterscheiden zu können und luden in großer Mehrheit die Kriegsbefürworter in ihre Sendungen ein. Es schlug die Stunde der „Sesselgeneräle“, wie sie die Schriftstellerin Natalie Weidenfeld so wunderbar umschrieb. Immer im Maßanzug Norbert Röttgen von der CDU, bestens gekleidet auch der bis dahin völlig unbekannte Militärexperte Carlo Masala – und natürlich die Unvermeidliche: Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Zusammen mit Roderich Kiesewetter von der CDU bildete sie das martialische Duo, das aber auch mit gar keiner Waffenlieferung des Westens zufrieden sein wollte: Es könnte bitte immer noch mehr sein, war ihre offenkundige Devise!
Auf die – vorsichtig gesprochen – nicht ganz objektive Besetzung dieser Meinungsbildung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wiesen Harald Welzer und Richard David Precht in ihrem Bestseller „Die vierte Gewalt“ offen hin, mit der Folge, dass auch sie von heute auf morgen über Monate von den Fernsehkanälen verschwanden. Wesentliches Argument derer, die auf die Fortsetzung einer massiven Unterstützung der Ukraine drängten: Die Moral! Es ginge eben nicht an, dass Diktatoren die Landkarten der Welt nach Lust und eigener Vorstellung veränderten. Sicher richtig, aber halt wenig hilfreich, wenn es um Leben und Tod geht.
Plötzlich wurde allabendlich in der Ukraine das Schicksal Europas verhandelt, denn was wäre, wenn Putin morgen Polen oder Estland überfiele? Starke Szenarien und Hypothesen, die kaum auf Plausibilität und Wahrscheinlichkeit überprüft wurden. Die Folgen: Ein neuer deutscher Verteidigungsminister spricht nicht mehr von Verteidigungs-, sondern von „Kriegsbereitschaft“, die es jetzt brauche. Tatkräftig und selbstbewusst präsentiert er sich. Ein vierschrötiges Gegenmodell zum zögernden Kanzler. Er sei schon auch Pazifist, meint er in einem Interview, aber die andere Wange würde er nicht hinhalten, da höre es auf. In den Umfragen wird er so schnell zum Lieblingspolitiker vieler Deutscher, die Sehnsucht nach Ordnung und einfachen Antworten haben.
Und einberufen wird jetzt ein großes NATO-Manöver, das einen Angriff Russlands auf westliches Gebiet simuliert. Seltsam nur, dass man sich da nicht sicherer fühlt, wo die Militärs doch so fleißig den Schutz der Bevölkerung zu üben beginnen! Überhaupt – kaum widersprochen wird dem Schlagwort von der „Zeitenwende“, die alles bisherige Denken und Reden über den Haufen werfe. Als wäre die Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts niemals in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei einmarschiert. Im August 1968 schrieb dazu der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, später Kanzler, in der „Münchner Abendzeitung“, dass es gerade jetzt gelte, kühlen Kopf zu bewahren, nicht zurückzuschlagen und „die Entspannungspolitik“ nicht aufzugeben. Und zu fragen ist doch auch, ob der Krieg der USA in Vietnam oder Jahrzehnte später im Irak sich wirklich so ganz vom Handeln Russlands unter Putin unterscheidet!
Damit es kein Missverständnis gibt: Länder und Demokratien müssen wehrfähig sein! Aber es ist ein großer Unterschied, ausschließlich und fortgesetzt nur militärischen Mitteln zu vertrauen oder wie – früher unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und dann unter Helmut Kohl – immer auch dem Mittel der Sprache, der Deeskalation und der Verhandlungen zu vertrauen. Die Fähigkeit zu entwickeln, innezuhalten auf einem Weg, der offenkundig keinen Erfolg einbringt und nur seine blutige Spur im Osten Europas zieht.
Eingewandt wird an diesem Punkt, dass man mit Putin nicht sprechen könne – aber damit lässt man sich doch von Anfang an auf die brutale Perspektive des Gegenübers ein, der so gerade nicht durch immer neue Versuche, doch ins Gespräch zu kommen, auf politische Weise unter Druck gesetzt wird. Sprache hat immer – das wissen alle, die sie irgendwie ernsthaft studiert haben – ein mächtiges Wirkungspotenzial, das den Angesprochenen – er mag sich noch so sehr dem Angesprochen-Sein zu entziehen suchen – unter Druck setzt. Wo der andere scheinbar nicht mehr sprechen will, beginnt erst die wahre Kunst des Sprechens! Mehr als mühsam, aber die einzige Alternative zur Dauerschleife von Gewalt und Gegengewalt. Kommt hinzu, dass Russland mittlerweile in der Welt von China bis Afrika eben nicht alleine steht, sodass rein militärische Lösungsstrategien für den Ukraine-Krieg nicht die gewünschte Wirkung haben werden und den Westen in einer global gewordenen Welt selber auch von anderen Ländern isolieren.
Die Situation heute? Die letzten Unentwegten fordern von einer müde gewordenen Welt die nächste Stufe der Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie ein Roulette-Spieler, der glaubt, dass im nächsten Spiel-Durchgang endlich die gewünschte Farbe aufscheint. Der Nahost-Konflikt mit der echten Gefahr eines riesigen Flächenbrandes hat sich aber dann doch als viel gravierenderes Thema auch für den Westen gezeigt, sodass sich unser Interesse eher dorthin neigt und noch viel stärker ein zügiges Ende des Krieges in der Ukraine dringend notwendig macht!
Und es gibt ja auch kaum mehr Soldaten in der Ukraine, die kämpfen könnten, sodass der im eigenen Land mittlerweile umstrittene Präsident jetzt schon die Rückkehr der im Ausland lebenden Landsleute einfordert. Viele der von Deutschland gelieferten Panzer waren im Übrigen schnell nicht mehr funktionsfähig, weil sie nicht sachgerecht bedient oder repariert werden konnten. Auch das hatten die Fachleute vorausgesagt. Und was in den USA passiert, steht buchstäblich in den Sternen und muss noch mehr dahin führen, dass wir uns endlich um uns selbst kümmern, in einem gemeinsamen Europa, das wir so dringend brauchen.

„Der Westen hat eigene Interessen“, schreibt Jürgen Habermas so treffend, die sich von den Interessen der Ukraine unterscheiden! Für das Europäische Parlament allerdings darf jetzt auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann an erster Stelle für die FDP kandidieren, sodass sie dort – wenn der Wähler nicht Einhalt gebietet – am Ende auch noch landen wird. Und Carlo Masala platzt fast vor Bedeutung, die ihm die Fernsehkameras in den letzten zwei Jahren scheinbar verliehen haben. Einige Kriegsgewinnler gibt es am Ende halt immer!

 

Straubinger Tagblatt vom 10. Februar 2024