Vor ein paar Tagen: Ein Kaminabend in einem christlich-spirituellen Gesprächskreis. Die Meldung vom Tod des russischen Oppositionspolitikers Nawalny ist nur wenige Stunden alt. Eine liebenswürdige Dame ereifert sich: „Der steht jetzt in unmittelbarer Nachfolge der Kreuzigung Jesu Christi!“ Aber stimmt das denn auch? Einiges ist tatsächlich parallel. Wir wissen heute: Mit dem Aufbruch nach Jerusalem weiß Jesus um sein Schicksal. Nawalnys Rückflug nach Moskau kann man mit diesem Weg schon als vergleichbar denken.
Aber die Frage stellt sich doch unmittelbar: Dachte Nawalny das schreckliche Schicksal, das ihm jetzt blühte, bis zum Ende durch? Machte er sich eine wirkliche Vorstellung von der ganzen Gefahr, die ihm jetzt drohte? Er habe keine Lust auf diesen „Exilquatsch“, sagte er wörtlich zu seinen Freunden, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet.
Aber war ihm denn bewusst, dass das System Putin überhaupt kein Pardon, keinerlei Spielraum für ein Überleben lassen würde? Gleichzeitig mit seinem Rückflug nach Moskau stellten Nawalny und seine politischen Freunde eine offensichtlich authentische Dokumentation des vor der russischen Öffentlichkeit verborgenen Reichtum Putins ins Netz. Ein Palast, den der sich gebaut hatte und der an Protz nicht zu überbieten war. Ist das noch politische Aufklärung, oder Provokation, oder nicht doch schon eher ein selbstmörderischer Amoklauf? Was dachte Nawalny, als er auf diesem Rückflug war, im Innersten wirklich? Oder hatte er Hoffnung, eine ganze russische Welt mit seinem Einsatz und der damit verbundenen weltweiten Aufmerksamkeit in ganz kurzer Zeit zu verändern?
Wir können es heute nicht wissen! Was wir schon wissen können, ist, dass Putin den Zeitpunkt des Todes von Nawalny ganz bewusst wählte. Es war bekannt, dass die Ehefrau des Oppositionspolitikers zur in München bei der Sicherheitskonferenz versammelten westlichen Welt sprechen würde. Dort trafen sich all die, die sich – im Blick Putins – feindselig als westliche Welt gegen ihn verbündet hatten. Eine Einladung für ihn, den – seit Kindertagen – gefürchteten Außenseiter hatte es wieder einmal nicht gegeben.
Putin tötet Nawalny genau in dem Augenblick, da er weiß, dass wenige Stunden später eine traumatisierte Witwe vor die Kameras der Welt treten würde. Das ist die härteste Art, Machtpolitik auszuspielen. Wer heute Bücher über die Kriege Roms etwa gegen Karthago liest, der erkennt im Handeln Putins die archaische Grundstruktur dieser Zeiten wieder. Der Gegner wird auf grausamste Art und Weise getötet. Mitleidlos. Auch das erinnert an das Schicksal Jesu vor über 2 000 Jahren.
Andere Aspekte der beiden Lebensschicksale sind grundverschieden. Entscheidend ist vor allem, dass Jesus deshalb gekreuzigt wurde, weil er eine politische Utopie für diese Welt verneinte. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagt er und lehnt den Anspruch derer ab, die Jerusalem von römischer Herrschaft befreien wollen. Das sind damals die „Zeloten“, die auch mit Gewalt das römische Joch abschütteln wollen. Denen folgt Jesus nicht und besiegelt damit sein Todesschicksal. Über diese Kreuzigung von Jesus haben sich Hunderte von Theologen den Kopf zerbrochen. Vor allem daran, dass es Gott-Vater gewesen wäre, der von seinem Sohn Jesus das Opfer der Kreuzigung verlangt hätte, um sich mit den schuldig gewordenen Menschen zu versöhnen. Das war lange die falsche, aber gerade unter Theologen gängige Deutung der Ostergeschichte. Denn welcher Vater würde vom geliebten Sohn ein solches Opfer verlangen?
Erst die modernen Theologen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kamen der Wahrheit wirklich auf die Spur: Es war Jesu‘ freier und eigener Wille – in ganz eigener Entscheidung – sein Leben zu geben, um dann im kosmischen Durchgriff auf die Seelen aller Menschen für alle Zeiten die Möglichkeit zu geben, in die Gotteswirklichkeit kommen zu können – und hätten sie sich auch davor in noch so tiefe Lebensdunkelheit verirrt. In dieser Welt und Wirklichkeit, in der wir hier leben, aber auch für die Erlösung, die hier nicht vorstellbar ist.
Wenn Menschen heute dafür Zeugnis ablegen, dass sie buchstäblich vom Heiligen Geist ergriffen worden seien und tiefste Dunkelheit in der eigenen Seele abgefallen wäre wie Schatten, die plötzlich nicht mehr da gewesen wären, dann wurzelt dieses Geheimnis unserer Tage in der Karfreitagsnacht vor über 2 000 Jahren. Das lehren die modernen Theologen heute. Kein politisches Motiv also, sondern Heilstat gerade für die Menschen, die sich am schwersten verirrt haben. Jesus treibt schon zu Lebzeiten Dämonen aus, er heilt also Psychosen, so würde das heute die moderne Psychiatrie bezeichnen. In den Tempel von Jerusalem kommen vor seinem Tod „Lahme und Blinde“, die er zu heilen vermag. Dorthin kommen vor allem auch Kinder, die die friedvolle Ausstrahlung Jesu spüren.
„Kinder, das sind nicht nur Kleinkinder, sondern in der Sprache der Bibel sind damit immer einfache, verständnisvolle Menschen gemeint, weise Herzen, die verstehen, worauf es ankommt. Die Frauendemonstrationen im Ersten Weltkrieg haben klarer als die großen Generäle gesehen, wo alles hinausläuft. Jesus setzt auf das Gespür von einfachen Menschen. Sie ahnen etwas von der „Macht“ der Gewaltlosigkeit. Dafür setzt auch er sich ein und er setzt sich damit aus bis zum Letzten. So ist Jesus, der mit seiner sanften Gewalt alles erweichen und durchdringen will. Er wird als Opfer von brutaler Gewalt enden. An der Seite Gottes aber lebt er als Sieger. Er ermutigt die Glaubenden, seinem gewaltfreien Beispiel zu folgen.“ (Karl Kern, „Matthäus für heute“)
Im Mut von Nawalny, in seiner Kraft auszuhalten, ein Beispiel zu geben gerade aus der Gefängniszelle heraus, liegt Gemeinsames mit Jesus. Im politischen Ziel seines Handelns liegt radikale Differenz zum Schicksal Jesu. In vielen Zeitungen in diesem Land wurde Nawalny ausschließlich als Held gesehen, zu dessen Beispiel kaum jemand die Kraft habe aufzustehen. Das ist ein Aspekt. Es ist aber doch auch erschütternd, nochmals das Bild vom in Berlin nach dem Giftattentat genesenden Nawalny zu sehen, an dessen Bett Ehefrau und Kinder sich glücklich finden, den Vater wieder in die Arme zu schließen. Dem sein Leben mit seiner Familie nochmals geschenkt worden war.
Jesu Tod bedeutet Erlösung für die Welt. „Indessen hatte der Tod Jesu nur deshalb Effizienz, weil sich seine Hingabe in erster Linie auf Gott bezog; auf den Gott, von dem er sich (in seinem Sterben, Anm. d. Verf.) verlassen wusste.“ (Eugen Biser, „Der Mensch – das uneingelöste Versprechen“) Mit seinem Sterben und seiner Auferstehung tritt Jesus in das „Geheimnis seiner unausdenklichen Absolutheit, seines ewigen Schweigens, seiner unaussprechlichen Verborgenheit und seines unzugänglichen Lichtes zurück. In dieses mit der göttlichen Wirklichkeitsfülle identische Geheimnis stirbt Jesus hinein.
In seinem Tod erreicht er daher die vollkommene Identität mit Gott. Doch damit verliert der Tod seinen Charakter als Untergang und Ende, und er gewinnt den eines Aufgangs und Anfangs.“ (Eugen Biser) Nur Jesus allein konnte mit seiner Erlösungstat diesen Weg für alle Menschen in allen Zeiten bahnen. Sein Sterben allein macht denselben Weg für alle Menschen aller Zeiten frei. Das ist im christlichen Glauben die Bedeutung von Ostern.
In den letzten Jahren vor seinem eigenen Tod hat der Religionsphilosoph Eugen Biser den Begriff vom „ozeanischen Atheismus“ unserer postmodernen Welt geprägt. Gemeint ist damit, dass in Friedrich Nietzsches laut hinausgerufenem Satz „Gott ist tot!“ der christliche Glauben noch immer atme und in jedem Widerspruch Nietzsches das ganze christliche Gedankengut nochmals ausgesprochen und in seiner Bedeutung erkannt werde.
In unseren Tagen sei die Gottlosigkeit dagegen mit ihrem leeren Nihilismus zur Alltagswelt verkommen. Im sturen und blinden Vertrauen, allein mit immer mehr und besseren Waffen Frieden herstellen zu können, kommt dieser Nihilismus zu einem seltsamen Höhepunkt.
Es ist schon verwunderlich, dass gerade die Parteien mit dem christlichen C am Beginn der Buchstabenfolge ihres Namens ihren spirituellen Markenkern offensichtlich aufgegeben haben. Heute schlägt das Herz eines christlichen Denkens eher in Politikern der Sozialdemokratie, die auf dem Wert jedes einzelnen Lebens in seiner Unvertretbarkeit auch schon in dieser Welt insistieren und sich dem Verheizen von Menschenleben in Kriegen, so gut es in diesen schrecklichen Zeiten eben geht, entgegenstellen.
Am Palmsonntag vor über 2 000 Jahren reitet Jesus auf einem Esel in Jerusalem ein, um ein Beispiel von Demut zu geben. Zu viele Politikerinnen und Politiker von heute sitzen auf dem hohen Ross ihrer Selbstherrlichkeit, mit der sie militärische Erfolge und die Durchsetzung von Gerechtigkeit mit dem Blutzoll von jungen Menschen einfordern, wo doch am Ende nur traumatisierte Familien zurückbleiben, die das Schicksal der gefallenen Söhne beweinen.
Straubinger Tagblatt vom 16. März 2024