Wer einmal ein paar Monate in der Stadt New York gelebt hat, der weiß, was ein Leben in reiner Gegenwart bedeutet. Rund um die Uhr tobt das Leben in dieser Stadt, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Atemlos, pausenlos, faszinierend in seiner ständigen Bewegung, die kaum ein Innehalten zulässt.
Anonym rauschen die Menschen in Manhattan aneinander vorbei, immer den Blick auf den nächsten Termin gerichtet, ein Geschäft, das sie machen wollen, oder einen Lunch, ein Bier vor dem Abendessen in einer der unendlich vielen Bars und Kneipen dieser Millionenstadt. Oder auch ein „Date“ mit einer neuen Bekannten, deren Geschichte allzu leicht im Dunklen verbleibt. Reine Gegenwart ist es, was das Lebensgefühl der Menschen dort ausmacht. Das hat etwas Erotisches, etwas Magisches, aber auch etwas Verzweifeltes. Junge Menschen zieht es leicht dorthin, Ältere flüchten häufig gerne aus der Stadt, wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu bietet, manche gerne für immer.
Das Internet verspricht nur reine Gegenwart, jeden Tag.
So bunt wie das Leben in dieser Stadt ist längst auch die Welt des Internet. Tausend Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Tausend Clips und Videos, kurzatmig wie das Leben in den Straßen New Yorks. Wer freilich die Straßen des Internet verlegt und welches Interesse er damit verfolgt – es spielt am Ende kaum eine Rolle. Reine Gegenwart, das ist es vor allem, was die digitale Welt mit ihrem Zauber jeden Tag wieder neu verspricht. Immer kann jederzeit alles passieren – und morgen ist schon wieder ein neuer Tag mit denselben Versprechen. Und so vergeht die Zeit, die Lebenszeit.
Die Philosophie hat immer wieder versucht, einem solchen reinen Verrinnen von Zeit ein Entgegen abzugewinnen. Eine Struktur, ein Leben, das sich in ein Gestern, ein Heute und ein Morgen unterteilen lässt. Rhythmen des Tages, der Woche, des Jahres, die das Leben dem reinen Fluss der Zeit entziehen. Augustinus, der sich in seinen berühmten Confessiones genau damit beschäftigt.
Oder auch der Theoretiker der Psychoanalyse, Erik Erikson, der das Leben in acht verschiedene Phasen unterteilt; und jeder dieser Phasen teilt er andere Aufgaben und Möglichkeiten zu, damit das Leben dem reinen Fluss der Zeit entzogen bleibt. Unmerklich verrinnt die Lebenszeit, aber Erikson gelingt es, diese verschiedenen Phasen des Lebens so voneinander abzugrenzen, dass Orientierung möglich wird.
Das Leben in den Klöstern mit seinen festen Uhrzeiten: das Morgengebet ganz in der Früh, am Ende des Tages ein wenig freie Zeit zum Lesen oder Schreiben. Der Zeit eine Struktur geben, darum geht es auch dort. Eine innere Festigkeit zu erlangen. Der Abt eines Klosters sagt zu mir: „Am seltsamsten empfinde ich meine Zeit auf den Flughäfen dieser Welt, wenn ich reisen muss. All diese Geschwindigkeit, all dieses Leben dort, herausgerissen aus den unmittelbaren Beziehungen der Menschen zu Hause, hineingespült in den flüchtigen Ort eines Flughafens. Ich bin immer wieder froh und dankbar, wenn ich in meinem Kloster zurück bin“.
Und ein bekannter Psychotherapeut erzählt mir: „Manche Menschen haben als Erwachsene vergessen, wie in der Schulzeit jeder Tag eine andere Farbe hatte, der Donnerstag zum Beispiel war doch irgendwie blau.“ Er arbeite immer wieder daran, die Menschen, die sich selber nicht mehr spüren könnten, neu in Begegnung mit sich selbst zu bringen. Sich selbst, wo sie sich verloren oder verrannt hätten, in langen Sitzungen wieder zurückkommen zu lassen zu sich selbst.
Und das habe auch mit dem Erleben von Zeit zu tun. Sich selbst und die Welt wieder erleben und wirklich spüren zu können, das sei dann die mühsame Aufgabe eines Therapeuten in vielen Stunden.
Im Jahr 1997 fand in Paris ein großer Kongress statt, der sich mit der Zukunft der Medien beschäftigte. Das Internet steckte gerade in den Kinderschuhen – und doch rief eine amerikanische Zukunftsforscherin der erstaunten Zuhörerschaft zu, dass es bereits im Jahr 2000 keine Zeitungen mehr geben würde. Alle Funktionen des gedruckten Wortes würden leicht von der digitalen Welt übernommen – und das würde jetzt ganz schnell gehen.
Das gedruckte Wort: noch lange kein Ende in Sicht
Immer wieder wurden von Zukunftsforschern aus der ganzen Welt neue Termine für das endgültige Ende des gedruckten Wortes benannt. 2010, 2020, oder auch jede andere Jahreszahl in der Zukunft. Spektakuläre Prognosen von Wanderpredigern bei Zukunftskongressen gab es und gibt es zuhauf, nur seltsam, dass sie nie eintrafen – und voraussichtlich auch nie eintreffen werden.Warum? Weil im Netz alles immer da ist – und weil das am Ende nicht zu ertragen ist! Keine Pausen, kein Gestern, kein Morgen, kein Heute, sondern ein ubiquitärer, scheinbar allmächtiger virtueller Raum durch alle Zeiten und Räume hindurch. Es ist so lebendig wie die Stadt New York, die bekanntlich niemals schläft.
Alles und nichts sagen , mit diesem Titel ihres 2023 erschienenen Buches urteilt die Schriftstellerin Eva Menasse über die digitalen Welten. „Zeit“, so schreibt sie, „spielt die bedeutendste Rolle, sie ist ein entscheidender Faktor, Beschleunigung ist nämlich kein Wert an sich, beinahe im Gegenteil.“ Gemeint ist: Wer mit seelischer Überschallgeschwindigkeit durch den digitalen Kosmos rast, der wird am Ende kaum bei sich selbst ankommen. Sehnsucht habe sie, so schreibt die Autorin, nach „dem guten alten Brief“. Denn da komme sie beim Schreiben ins Nachdenken, revidiere vorschnelle Positionen und habe am Ende ein ganz anderes Gefühl für sich selbst und ihre Welt.
Zeitungen leben von diesem Aspekt der Welt. Jeder Text, der gedruckt wird, steht in einem Zusammenhang mit der wirklichen Welt, in der wir täglich leben. Er erzählt von dem, was gestern wirklich geschah und fragt nach der Welt, wie sie morgen wirklich sein wird.
Verantwortung für Lesezeit, Sprache und Wirkung
Zeitungen entstehen Tag für Tag. Der Raum, den sie für sich beanspruchen, bleibt begrenzt. Die Seitenzahlen von Zeitungen sind immer gezählt. Das Sprechen von Zeitungen ist nicht uferlos, sondern weiß um die Grenzen der Aufmerksamkeit und um die Grenzen der Zeit, die beansprucht werden darf. Menschen, die über Jahre gelernt haben, mit Sprache umzugehen, bemühen sich, die Werkzeuge der Sprache verantwortungsvoll zu gebrauchen.
Sie nehmen sich eben Zeit für einen Text, der am besten durchdacht ist. Dass am Ende ein guter Text entsteht, braucht nämlich Zeit zum Denken und zum Schreiben. „Längere Texte, also geordnete Gedanken“, so schreibt Eva Menasse, müssen „erst einmal entwickelt und geschrieben, dann gelesen und verstanden werden.“Und die Autoren des gedruckten Wortes fragen sich auch, welche Folgen wird das haben, was ich schreibe? Verändert es die Welt zum Guten oder führt mein Text zu Hass und Aggression?
Wichtiges kommt zuerst: Zeitungen ordnen die Zeit
Dass Zeitungen regelmäßig am Morgen im Briefkasten liegen, das nennt die Wissenschaft die sogenannte „Periodizität“ von Tageszeitungen. Der Zeit wird so eine Ordnung abgewonnen, eine Struktur, die wir Menschen brauchen. Das Wichtige wird vom Unwichtigen unterschieden – und steht hoffentlich ganz vorne und ganz oben.
Im Netz blühen dagegen oft genug die Blumen des Bedeutungs- und Sinnlosen in großer Fülle und heischen aufgeregt nach Aufmerksamkeit. Und so führen sie die sogenannten User weit weg von dem, was eigentlich für sie wichtig wäre. Sicher, das Netz bietet auch Freiraum für Dinge, die sonst nicht gesagt werden und doch Relevanz haben, aber allzu häufig werden eher sinnlose Sprechblasen abgelassen, die niemandem wirklich dienen.
Unabhängig von der Wahrheit der Information, die in der digitalen Welt zudem oft von „fake news“ verfälscht wird, bietet das gedruckte Wort in der Zeitung, aber auch in vielen Büchern in seiner geistigen Ordnung eine Grundorientierung für Geist und Seele im Alltag. Einen Rhythmus, der atmen und vertrauen lässt.
Das gedruckte Wort hat immer auch eine spirituelle Dimension
In Ostdeutschland gibt es ein interessantes Phänomen: Die Zeitungen gehen zurück. Stark wird die digitale Welt und mit ihr das rechtsradikale Denken und Sprechen. Die AfD hat das Internet für sich entdeckt und manipuliert wie kaum eine andere Interessensgruppe die Köpfe der Menschen.
Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Zeitungen, die für die Demokratie einstehen und den Wahlergebnissen der demokratischen Parteien. Das Fehlen von Zeitungen führt nicht nur zu einer Verödung des Denkens, sondern regelrecht zu einer Verformung des politischen Bewusstseins.
Die Demokratie braucht seriöse Medien
Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem vor zwei Jahren erschienenen kleinen Band Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik auf diesen Zusammenhang deutlich hingewiesen. Sein kluges Urteil: „Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr gewährleisten kann.“
Übersetzt: Verschiedene Zeitungen von der Süddeutschen Zeitung bis hin zum Nachrichtenmagazin Der Spiegel geben wichtige Diskussionsleitplanken, damit am Ende in einem Land demokratische Prozesse ablaufen können und wertgeschätzt werden.Die AfD und ihre Gesinnungsgenossen nutzen das Netz in perfider Weise, um das Denken derer, die sich auf ihren Portalen bewegen, nach Strich und Faden zu manipulieren. Seriöse Medien dagegen versuchten, so Habermas, „das unscharfe alltägliche Bild“, das sich die Bürger eines Landes von der Welt machten, mit ihrem „Fluss von täglich erneuerten Informationen und Deutungen“ zu „bestätigen, zu korrigieren und zu ergänzen.“
Den Rechtspopulisten geht es im Gegensatz dazu darum, ein solches wirkliches Bild von der Welt, das sich um Objektivität und Fairness bemüht, zu unterlaufen und zu zerstören.Wer keine Zeitung liest, der hat am Ende eben keine Ahnung, was draußen in der Welt wirklich vor sich geht, sondern muss glauben, was ihm in der digitalen Welt aus allzu häufig unsauberen und trüben Quellen vorgesetzt wird. Am Ende landet er in den „abgeschirmten Echoräumen von Gleichgesinnten“, so Jürgen Habermas. Man bestätigt sich gegenseitig im wechselseitigen Wahn.
Ein neues Jahr beginnt. In turbulenten, beängstigenden Zeiten wollen wir als Zeitung – wie schon seit jeher – Lebensraum, Denkraum, Sprachraum schaffen, in dem es sich lohnt, am Morgen, am Mittag, am Abend ein wenig zu verweilen.
In diesem Sinn wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser unserer Zeitung, ein gutes, gesundes, gesegnetes neues Jahr 2025!
Straubinger Tagblatt vom 31. Dezember 2024